Erzaehl mir ein Geheimnis
Trauer.
Bewaffnet mit einem Thunfischsandwich stapfte ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch – in der einen Hand balancierte ich einen Teller, in der anderen mein gebrochenes Herz.
Nichts, was ich über Xanda wusste, hatte mich auf das hier vorbereitet. Sie hatte keine Anleitung für Abweisungen jeglicher Art hinterlassen, keinen geheimen Blog. Keine Notizen, wie ich mit meinem eigenen Zerfall umgehen sollte. Ich hatte versucht, Kamran in mich einfließen zu lassen, um die Tunnel der Verzweiflung, die Xanda hinterlassen hatte, mit Knospen der Hoffnung zu füllen. So wie meine Schwester das Zusammensein mit Andre mit einer Art gehärtetem Stahl ausgefüllt zu haben schien. Jetzt, da Kamran diese Hoffnung gewaltsam herausgerissen hatte, entstand eine schwindelerregende Leere in mir. Unmittelbar bevorstehender, völliger Zusammenbruch.
Als ich gerade in mein Sandwich biss, kam Mom mit hochrotem Kopf und zusammengepressten weißen Lippen, zur Tür hereingestürmt. Ich kannte dieses Gesicht nur zu gut.
»Kein Thunfisch!«, schrie sie und schlug mir das Sandwich aus der Hand, das sich daraufhin auf meiner Kommode verteilte.
Bevor ich reagieren konnte, drehte sie sich um und floh ins Schlafzimmer. Für Xanda wäre dieser Auftritt ein altes Drehbuch. Für mich aber war es neu.
Ich konnte ihr unterdrücktes Weinen auf der anderen Seite der Tür hören. Vielleicht hatte mein Dad ihr gesagt, dass er endgültig die Schnauze voll hatte. Vielleicht starb aber auch gerade jemand aus der Gebetsgruppe an einer Thunfischvergiftung. Bei dem Gedanken daran, dass es noch einen anderen Grund geben könnte, wurde der Druck auf meinem Brustkorb schier unerträglich.
Wie in einem schlechten Film sah ich es wieder vor meinem inneren Auge ablaufen: Essence, wie sie auf der Party um die Ecke schleicht und in ihrem gelben Auto davonrast. Erst Kamran und jetzt meine Mom. Shit. Lass es alles, nur nicht das sein .
»Mom«, sagte ich mit zittriger Stimme. »Mom, bist du okay?«
Kurz dachte ich daran einfach abzuhauen, ohne es überhaupt herausfinden zu müssen. Doch plötzlich öffnete sich die Tür und da stand sie, ein bebender Berg.
»Ich habe einen Anruf von der Gebetsgruppe bekommen«, sagte sie mit gleichmäßiger Stimme, die im krassen Gegensatz zu ihrem Versuch stand, sich eine lose Haarsträhne mit der geballten Faust aus dem Gesicht zu streifen.
Die Gebetsgruppe . Essence. Ihre Mutter war fähig, die gesamte Gruppe in Bewegung zu setzen, bevor die Neuigkeit überhaupt zu meiner Mutter durchdringen konnte.
»Ich dachte, ich könnte dir vertrauen«, zischte Mom. »Ich hätte wissen müssen, dass so etwas früher oder später passieren würde.«
Es war nicht so, dass ich diese Worte noch nie gehört hätte – nur waren sie nie an mich gerichtet gewesen. »Wovon redest du?«
»Alle beten für uns, für unsere Familie . Für dich und deinen …« Sie blickte verächtlich auf meinen fast flachen Bauch. »… deinen Zustand .« Die Worte sprühten wie Gift aus ihrem Mund. »Alle reden darüber.«
Natürlich redeten sie . Göttliche Erniedrigung. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen.
»Wer ist der Vater?«, verlangte sie zu wissen.
»Was meinst du damit, wer ist der Vater? Es ist Kamran!« Meine Eltern hatten ihn nicht oft gesehen, aber sie wussten über ihn Bescheid. Sie kannten seinen Namen, wussten, dass ich meine Zeit mit ihm verbrachte und dass er aufs MIT wollte. »Warum denkst du, es könnte ein anderer sein?«
»Woher soll ich das denn wissen? Wenn du Sex hast, könntest du ihn mit Gott weiß wem haben.«
Sie fasste mein Schweigen als Bestätigung auf.
»Mit wie vielen Leuten hast du Sex, Miranda?«
Ich habe überhaupt keinen Sex , dachte ich kläglich.
»Wir hatten gehofft, dass du nach allem, was uns deine Schwester zugemutet hat, etwas gelernt hättest. Deshalb haben wir dich diesen Sommer weggeschickt, weil wir dachten … Nun ja, es war eindeutig dumm von uns zu denken, wir könnten dich wirklich davon abhalten, mit dem Erstbesten in die Kiste zu springen, der auftaucht.«
Sie presste sich eine Hand gegen die Stirn, als ob es ihr Schmerzen bereiten würde, mich auch nur anzusehen. »Im Moment bist du für mich so tot wie deine Schwester.«
Ich kann mich nicht mal mehr an mein Keuchen erinnern oder daran, wie ich den Flur entlang und zur Tür hinauslief.
Ich rannte, bis ich nicht mehr konnte, über den Hügel und in den Madison Park. Er war menschenleer in der späten Septemberkälte, und die
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