Erzaehl mir ein Geheimnis
uns nicht einmal angesehen. Als es klingelte und ich seinen Arm berührte, zuckte er zurück, als hätte ich ihm eine runtergehauen. Er sagte nichts, warf sich nur seinen Rucksack über die Schulter und verschwand um die Ecke.
Vor meiner letzten Stunde zog mich Delaney in die Toilette. Sie sah fabelhaft aus, ihr offenes Haar umschmeichelte geradezu perfekt ihr Gesicht. Das letzte Mal, als ich in den Spiegel gesehen hatte, sah ich aus, als hätte ich eine tote Katze verschluckt.
»Ich habe gerade Kamran gesehen. Er scheint durcheinander zu sein«, begann sie.
Die Angst, die mich schon den ganzen Tag begleitet hatte, legte sich jetzt wie ein schwerer Stein auf meinen Brustkorb. »Hast du es ihm gesagt?«
»Natürlich nicht, aber Essence … ich glaube, sie hat unser Gespräch gehört …«
Ich hatte Essence mit ein paar Leuten aus der Theater-AG gesehen, sie stand in der Mitte der Menge und alle sahen mich so drohend an, als wollten sie mich gleich fressen. Ich hatte sie noch nie so sauer gesehen. Konnte es wirklich sein, dass Essence es Kamran erzählt hatte?
Delaney zog einen Lipgloss aus der Tasche und hielt ihn mir hin. »Wenn du willst, dann kann ich mal mit ihm reden. Wir haben viel zusammen abgehangen im Sommer.«
Mein Gesichtsausdruck musste mich verraten haben, denn sie hörte auf zu reden und nahm meine Hand.
»Rand, ich möchte nur, dass du weißt, egal was passiert, ich bin für dich da.« Sie sah so aufrichtig aus, als sie das sagte, dass mich eine Riesenwelle von Schuldgefühlen überschwemmte bei dem Gedanken, dass ich ihr misstraut hatte.
»Danke«, sagte ich.
Ich musste Entscheidungen treffen. Jede einzelne würde unweigerlich Konsequenzen haben.
Wann sollte ich es Kamran sagen?
Abtreibung oder behalten?
Ich wusste, ich konnte es meinen Eltern nicht erzählen. Da Xanda mir nicht mehr helfen konnte, war Delaney meine einzige Hoffnung.
Im Unterricht beschäftigte sich der Kurs mit Kunst aus dem Mittelalter – ich nicht. Ich war ausgeschlossen von allem, das auch nur annähernd so aussah wie ein Labyrinth.
»Versuch dich an Porträts«, wies Mrs Crooker mich an. »Das ist eine gute Fingerübung für dich. Werde lockerer. Außerdem musst du deine Talentbreite zeigen, um an der Baird aufgenommen zu werden.«
Meine Aufgabe war es, den Schüler neben mir zu zeichnen. Nachdem ich den Kopf skizziert hatte, die Gesichtszüge, die Hände, die einen Bleistift hielten, konzentrierte ich mich auf das darunterliegende Blatt. Dort kurvte ich durch eine mittelalterliche Stadt, durch Korridore, Treppen rauf und runter, auf meinem eigenen geheimen Weg, direkt in das Netz der Spinne. Jedes Mal wenn die Lehrerin vorbeilief, verdrehte sie in gespielter Verzweiflung die Augen. Am Ende der Stunde trödelte ich rum, um den ständig schrumpfenden Weg durch mein Bild zu beenden. Vielleicht konnte ich das Unvermeidliche doch noch abwenden.
Ich musste es ihm selbst sagen, bevor es jemand anderes tun würde.
Nach dem letzten Klingeln fand ich Kamran, allerdings nicht an meinem Spind, sondern an dem von Delaney. Die beiden sahen vertraut aus, wie zwei alte Freunde, sie lachten, keineswegs so, als laste das Gewicht der Zukunft auf ihren Schultern.
Als sie mich sah, veränderte sich Delaneys neckisches Lächeln zu einer Art Lächeln, wie man es eher einem Sterbenden schenkt. Mitleid, vermischt mit einem Hauch vom Schuldgefühl des Überlebenden. Kamran sah mich drohend an.
»Hi, Süße«, gurrte Delaney und legte ihren Arm um mich. »Wie geht es dir?«
»Scheiße«, murmelte ich.
»Komm mit mir, ich habe genau das Richtige«, sagte sie, während sie mich in Richtung Toilette schob. »Ich habe ein neues …«
»Ich möchte jetzt nicht mit dir irgendwohin gehen. Ich muss mit Kamran reden.« Sie sah etwas überrascht und verletzt aus.
»Oh, okay. Wie du willst … «
»Lass es, Delaney«, blaffte Kamran plötzlich. »Das Problem kannst du nicht lösen.«
Problem . Oh Gott.
Er schnappte sich seinen Rucksack und stürmte an mir vorbei. Delaney wuselte davon und rief noch: »Ihr habt sicher einiges zu klären, denke ich. Ich muss Chloe finden, bevor sie eine Panikattacke kriegt.« Als ob sie nicht gerade eine solche direkt vor ihrer Nase gehabt hätte.
Ich folgte Kamran zu seinem Motorrad, er hatte schon seinen Helm auf und ließ den Motor aufheulen. Ein Stück Klebeband überdeckte einen Riss im Sitz, an dem ich mir im letzten Frühling ständig das Bein aufgescheuert hatte. Er hatte sich nach oben gerollt wie
Weitere Kostenlose Bücher