Erzaehl mir ein Geheimnis
ein Pflaster, das darauf wartete, abgerissen zu werden.
Ich stellte mich über das Vorderrad.
»Kamran«, schrie ich und versuchte, den Lärm zu übertönen. Sollten uns doch alle anstarren, es war mir egal. »Kamran, wir müssen reden!«
Er riss sich den Helm vom Kopf, während der Motor grollend weiterlief.
»Klar, du hast in letzter Zeit sehr viel geredet. Nur nicht mit mir.« Ich hatte ihn noch nie in diesem Ton reden hören. Normalerweise war er einfach nicht aus der Ruhe zu bringen. Jetzt erhob sich seine Stimme zu einer alarmierenden Lautstärke.
Leute wurden aufmerksam und kamen neugierig näher, allerdings nicht nah genug, um zur Zielscheibe für einen fliegenden Helm zu werden, falls Kamran sich entscheiden sollte, ihn zu werfen. Schüler in ihren Autos rollten diskret ihre Scheiben ein Stückchen herunter.
»Kamran, ich habe versucht, dich anzurufen. Ich habe den ganzen Sommer versucht, dich zu erreichen, und du hast die Hälfte meiner Anrufe nicht beantwortet.«
»Ich war beschäftigt. Ich habe gearbeitet. Und du rufst mich tausendmal an, nur um ›meine Stimme zu hören‹, also woher sollte ich wissen, welcher dieser Anrufe wirklich wichtig war?«
Ein paar Leute schnaubten. Sogar Lehrer blieben jetzt stehen, um uns zu beobachten.
»Ich habe gestern versucht, dich anzurufen«, sagte ich. »Ich habe es den ganzen Tag probiert und du hast nie zurückgerufen.«
»Wolltest du mich anrufen, um mir zu sagen, dass wir heiraten werden? So, wie du es Samstagnacht deinen Freundinnen und Gott weiß wem noch alles erzählt hast? Wann genau soll das stattfinden? Wenn ich am MIT bin?«
Eine Gruppe von Hacky-Sack-Spielern unterbrach ihr Gekicke, bis auf einen desinteressierten Typen, der seinen Hacky Sack weiter rauf- und runterkickte, im gleichmäßigen Rhythmus einer Zeitbombe.
»Oh!« Er lachte, sein Kinn zeigte nach oben und ich sah seine angespannten Halsmuskeln. »Und jetzt kommt das Beste …«
Oh nein, er konnte es doch unmöglich wissen. Bitte sag es nicht. Nicht hier vor allen anderen.
»Nein«, schrie er. »Das werden wir nicht. Ich mach das nicht mehr mit. Ich wollte es dir diesen Sommer schon sagen, wenn nicht das letzte Mal … vergiss es.«
»Wart mal ’ne Sekunde.« Ich stand immer noch über seinem Vorderrad, als er zurückfuhr. »Warte eine Sekunde. Heißt das … du machst mit mir Schluss?« Ich, die Skater, die Basketballspieler, die gerade aus der Turnhalle kamen, alle warteten gespannt auf seine Antwort. In seinen Augen sah ich Trauer – und Angst.
»Du hast gelogen.« Seine Stimme war nicht viel lauter als sein Motorrad. »Ich kann nicht glauben, dass du gelogen hast.« Er sagte den letzten Satz eher zu sich selbst.
»Du hast es nicht mal mir gesagt … es ist, als hättest du es absichtlich getan.« Er hörte auf zu reden und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass wir Zuschauer hatten. »Es tut mir leid, ich muss zur Arbeit.«
Er setzte seinen Helm wieder auf und ließ den Motor erneut aufheulen.
»Warte – du hast mir gar keine Gelegenheit …!« Meine Worte gingen unter, als er davonfuhr und ich allein auf dem Parkplatz stand. Ich hatte nicht einmal die Chance, es dir selbst zu erzählen .
Aber davon wollten nicht mal mehr die umherstehenden Gaffer etwas wissen. Als er weg war, verschwanden auch sie. »Junge, das war hart«, meinte einer der Hacky Sacker, bevor er seinen Hacky Sack zum Nächsten kickte.
Vielleicht hatte meine Mom ja recht. Vielleicht nahm ich wirklich etwas Schönes und verwandelte es in etwas Abscheuliches. Vielleicht ist es einfach so, dass das, was auf einer Zeitachse schön ist, auf einer anderen unweigerlich ranzig wird.
Ich blickte zum Haupteingang des Schulgebäudes. Dort stand Delaney und beobachtete mich.
10
Als ich nach Hause kam, war es gespenstisch ruhig. Normalerweise konnte ich mich drauf verlassen, dass meine Mutter Selbstgespräche führte, während sie schrieb, oder dass sie mit jemandem aus ihrer Gebetsgruppe am Telefon hing. Stille bedeutete, dass sie wahrscheinlich in der Kirche war, um die ersten Proben vorzubereiten. Das bedeutete, ich konnte meinen Schmerz ungestört ausleben.
Mein Magen, der mittlerweile etwa alle halbe Stunde leer zu sein schien, knurrte zu sehr, als dass ich mich weiterhin mit den umfassenden und bedrohlichen Problemen des Lebens hätte beschäftigen können. Wie der berühmte, amerikanische Psychologe Abraham Maslow in seiner Bedürfnispyramide so treffend darstellt, kommt das Verhungern vor der
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