Erzaehl mir ein Geheimnis
Foto, das ich kannte, hing an Dylans Kühlschrank, meine Mutter musste alle übrigen vernichtet haben.
Da man mir die Farben mit Giftstoffen verboten hatte, saß ich nun an einer Kohlezeichnung. Es gefiel mir immer besser, mit Kohle zu zeichnen, die Körnigkeit und die starken Kontraste waren ähnlich wie bei dem Bild, das ich von Lexi hatte. Beim Skizzieren der Linien kamen Licht und Schatten gut zur Geltung. Die fließenden Bewegungen glichen weniger den scharfen Kanten meiner vorherigen Arbeiten, sondern eher den Kurven und Knoten von Wurmlöchern, wie ich sie mir vorstellte. Pfade durch Raum und Zeit. Wege, um die Vergangenheit einzufangen.
***
»So funktioniert das nicht«, hatte Kamran gesagt, als er mir das erste Mal den Hyperraum erklärte. Das war zu der Zeit, als ich ihn noch nicht so gut kannte. Wir hatten gerade drei Stunden im Sci-Fi-Museum verbracht, wo es einer religiösen Offenbarung gleichkam, den Stuhl von Captain Kirk und die Originalmanuskripte von Robert Heinlein zu bewundern. Ich begriff, warum meine Zeichnungen ihn so fasziniert hatten.
»Du kannst die Vergangenheit nicht noch mal erleben, weil die Zeit sich nach einem Ereignis immer teilt – wie unendliche Äste eines Baumes. Jede Entscheidung, die du triffst, beeinflusst die Zukunft.«
Ich nickte, als hätte ich es verstanden, aber er kannte mich schon zu gut. Vielleicht war das einer der Gründe, warum ich ihn mochte – meine Masken funktionierten bei ihm nicht. Er wollte nur mein wahres Ich.
»Na gut«, sagte ich. »Wenn Zeit wie der Ast eines Baumes ist, warum können wir dann nicht zurück an einen bestimmten Punkt, um den Verlauf zu ändern?« Damals hatte ich ihm noch nicht von Xanda erzählt. »Ich meine, wäre es nicht dann möglich, wenn man genau den Punkt finden würde, an dem sich die Zeit geteilt hat? Genau diesen Punkt – wie beim Schmetterlingseffekt?«
»Ja, ja, wie der Schmetterling und der Tsunami, und wenn du die Zeit bis zu dem Schmetterling zurückverfolgen könntest, dann könntest du …«
»Genau!«
»Nein. Könntest du nicht.« Seine Worte ließen mich innehalten, trafen genau die Ängste, die ich von Anfang an gehabt hatte. Er würde mich für total dumm halten. Unwürdig. Eines Tages würde er mich gegen ein besseres Modell eintauschen, jemanden, der aufregender war als ich und cleverer. Jemanden wie Delaney.
»So funktioniert das nicht«, sagte er. »Weil es nicht möglich ist, zu ebendiesem Moment zurückzukehren. Du kannst die Zeit dazwischen nicht einfach auslöschen. Es wäre wie ein Ast, der versucht, in sich selbst hinein zurückzuwachsen.«
»Wie eine Schlinge«, sagte ich.
»Genau! Ich würde also sagen, es ist theoretisch möglich, zu demselben Moment in Zeit und Raum zurückzukehren, aber du hättest trotzdem die Zeit dazwischen erlebt.«
Damit konnte ich leben – zu dem Moment zurückkehren zu können, an dem sich für Xanda alles verändert hatte, der sie in den Tod geschickt hatte. Ich würde mich durch den Scherbenhaufen der Erinnerungen wühlen können, lauter Bruchstücke von Xanda sehen, bis zu dem Moment, als sie das letzte Mal zur Tür hinausging.
»Sehr schön«, kommentierte Mrs Crooker über meine Schulter. »Wie ich sehe, versuchst du, aus dem Labyrinth auszubrechen.«
Als ich mit der Kohle einen Himmel gewischt hatte, war ein weißer Abdruck entstanden – ein fliehender Vogel. Ich verließ die Linien und konzentrierte mich auf den Vogel, gab ihm die Freiheit, einfach nur zu fliegen – wie Xanda an dem Tag, als sie ihre Flügel ausgebreitet hatte, um mit Andre davonzufliegen. Wie ich immer noch hoffte, es mit Kamran zu können.
Vielleicht hatte er unrecht. Vielleicht war es doch möglich, die Gegenwart zu ändern, wenn ich genau den Moment finden würde, an dem alles außer Kontrolle geraten war.
In dieser Nacht stellte ich mir vor, wie Xanda aussehen würde, wenn sie ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag erlebt hätte. Ich skizzierte ein Bild von ihr, aber schon nach kurzer Zeit driftete ich wieder in die Labyrinthe ab. Ihre Locken breiteten sich aus wie Medusas Schlangen, in ihren Kopf, wanden sich in ihren Geist und zu Orten, zu denen ich ihnen nicht folgen konnte.
Wenn all das kein kosmischer Zufall war, dann wusste ich, was der Vogel bedeutete.
Xanda hatte mir einen Ausweg gezeigt, irgendwie, durch Zeit und Raum und vielleicht sogar über den Tod hinaus.
18
In der letzten Oktoberwoche waren alle an der Schule damit beschäftigt, Partypläne für Halloween zu
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