Erzaehl mir ein Geheimnis
Traumrolle. Sie stand im Rampenlicht, wie sie es verdient hatte.
Zu Hause hinter den Kulissen wurde meine Mutter jeden Tag angespannter. Es mussten noch Vorbereitungen getroffen werden, das Bühnenbild war noch nicht fertig, die Schauspieler weigerten sich standhaft, ihren Text in dem erwünschten Tonfall zu sprechen, und meine Mutter fragte sich, warum sie überhaupt jemals dieses Projekt übernommen hatte. Mein Dad würde auch seinen Teil übernehmen, irgendwas, und meine Mutter würde ihn lassen. Doch das verhinderte nicht, dass Moms Stresslevel vulkanische Ausmaße erreichte, zugleich mit der mächtigsten Beschuldigung von allen: Wenn Xanda hier wäre, wäre alles anders.
So waren die Wochen vor Weihnachten jeden Dezember, wenn wir drei uns auf die wichtigste Nacht des Jahres vorbereiteten – die Nacht, in der fünf Jahre zuvor Xanda abgehauen war. Jedes Jahr fragte ich mich, wie unsere Erinnerungen an diese Nacht von einer kirchlichen Weihnachtsaufführung einfach so ausgeblendet werden konnten. Aber es geschah jedes Jahr aufs Neue.
Lexis Existenz konnte nicht mehr ausgeblendet werden, weder durch sackartige Klamotten noch durch das demonstrative Schweigen meiner Familie. Ich wusste auch, dass ich nicht über die Rückenschmerzen zu jammern brauchte, über den unsäglichen Hunger, über das Hin- und Hergewälze in meinem Bauch, über einen Körper, der immer mehr meiner Kontrolle entglitt. Ich wusste auch, dass ich die geheimen Freuden lieber für mich behalten sollte. Das Gefühl, wie es ist, wenn ein kleiner Fuß an der Seite meines Bauches entlangstreifte. Die bizarren, aufeinanderfolgenden Stupser, die, wie mir plötzlich klar wurde, Schluckauf waren. Die Gedanken, die ich mir machte, wenn ich das Ultraschallbild betrachtete – ob sie wohl den gleichen Mund hatte wie ich oder vielleicht Kamrans Augen. Ob ein Stück von Xandas Seele in ihr steckte. All das hatte ich für mich allein.
Wenn irgendetwas aufwärtsging, dann war es mein Job in der Bank. Shelley hatte wahrscheinlich entschieden, dass sie nicht mehr so tyrannisch sein konnte, nachdem ich DaShawn kennengelernt und ihren Mann mit Turkey Talk aufgezogen hatte.
Im Pausenraum, als ich gerade mithilfe des Ultraschallbildes eine Skizze von Lexi zeichnete, kam sie herein und sah mir über die Schulter. »Ist das dein Baby?« Sie sah sich das Ultraschallbild fragend und mit einer Spur von Ehrfurcht an.
»Ja. Ich meine, so sehen ihre Knochen und das andere Zeug aus.«
»Ihre? Du weißt, dass es ein Mädchen wird?« Ich nickte. Sie stellte einen Stuhl neben mich und zögerte kurz, als ob sie sich nicht sicher war, ob sie stören durfte. Diese neue Vertrautheit fühlte sich immer noch seltsam an, Truthahn hin oder her.
»Ist das ihr Gesicht?«
Ich nickte. »Man kann noch nicht wirklich sagen, wie sie aussehen wird. Aber man kann ungefähr sehen, wo ihre Nase und ihre Stirn sind. Und das schwarze Loch hier, das ist ihr Magen.« Es war komisch, die Abbildung von Lexi so zu erklären.
»In welcher Woche bist du?«
»Nun ja, das war vor ungefähr zwei Monaten. Da war sie achtzehn Wochen alt. Jetzt ist sie fast in der vierundzwanzigsten.«
»Vierundzwanzig«, wiederholte sie.
»Warum haben Sie und James keine Kinder?«, fragte ich.
»Haben wir.«
Eine der Kassiererinnen huschte an uns vorbei und tippte mir auf den Arm. Wahrscheinlich wollte sie, dass ich für sie übernehme, während sie eine Kaffeepause machte.
»Klar, DaShawn ist Ihr Kind … aber ich meine … möchten Sie kein eigenes?« An dieser Geschichte war anscheinend noch mehr dran. Vielleicht wollte James keine Kinder mehr, oder sie dachten, es wäre nicht gut für DaShawn, oder schlimmer, sie konnten keine bekommen.
Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Doch, ich hätte gern ein eigenes Kind.«
»Hey, Rand«, unterbrach die Kassiererin, »könntest du mir helfen, ein paar Akten zu suchen?« Sie verpasste mir einen Halt-die-Klappe-ich-rette-dir-den-Arsch-Blick, wie ich ihn schon tausendmal auf Xandas Gesicht gesehen hatte. Ich musterte Shelley kurz, um zu sehen, ob sie sauer war, doch alles was ich erkennen konnte, war Traurigkeit.
»Bist du bescheuert, oder was?«, fauchte mich die Kassiererin an, als wir am Aktenschrank standen. »Oder hast du vielleicht Todessehnsucht?« Die andere Kassiererin, die gerade mit einem Kunden beschäftigt war, schielte über die Schulter zu uns.
»Was hab ich denn gesagt?«
»Du weißt es nicht? Dann bist du vielleicht nicht ganz so blöd
Weitere Kostenlose Bücher