Erzählungen
versäumen - dies nur nebenbei
erwähnt - Ihre geschäftliche Pflichten in einer eigentlich uner-
hörten Weise. Ich spreche hier im Namen Ihrer Eltern und
5
Ihres Chefs und bitte Sie ganz ernsthaft um eine augenblickli-
che, deutliche Erklärung. Ich staune, ich staune. Ich glaubte
Sie als einen ruhigen, vernünftigen Menschen zu kennen, und
nun scheinen Sie plötzlich anfangen zu wollen, mit sonderba-
ren Launen zu paradieren. De Chef deutete mir zwar heute
10
früh eine möglich Erklärung für Ihre Versäumnisse an - sie
betraf das Ihnen seit kurzem anvertraute Inkasso - , aber ich
legte wahrhaftig fast mein Ehrenwort dafür ein, daß diese
Erklärung nicht zutreffen könne. Nun aber sehe ich hier Ihren
unbegreiflichen Starrsinn und verliere ganz und gar jede Lust,
15
mich auch nur im geringsten für Sie einzusetzen. Und Ihre
Stellung ist durchaus nicht die festeste. Ich hatte ursprünglich die Absicht, Ihnen das alles unter vier Augen zu sagen, aber
da Sie mich hier nutzlos meine Zeit versäumen lassen, weiß
ich nicht, warum es nicht auch Ihr Herren Eltern erfahren sol-
20
len. Ihre Leistungen in der letzten Zeit waren also sehr unbe-
friedigend; es ist zwar nicht die Jahreszeit, um besondere
Geschäfte zu machen, das erkennen wir an; aber eine Jahres-
zeit, um keine Geschäfte zu machen, gibt es überhaupt nicht,
Herr Samsa, darf es nicht geben."
25
"Aber Herr Prokurist", rief Gregor außer sich und vergaß in der Aufregung alles andere, "ich mache ja sofort, augenblicklich auf. Ein leichtes Unwohlsein, ein Schwindelanfall, haben
mich verhindert aufzustehen. Ich liege noch jetzt im Bett. Jetzt bin ich aber schon wieder ganz frisch. Eben steige ich aus dem
30
Bett. Nur einen kleinen Augenblick Geduld! Es geht noch nicht
so gut; wie ich dachte. Es ist mir aber schon wohl. Wie das nur
einen Menschen so überfallen kann! Noch gestern abend war
mir ganz gut, meine Eltern wissen es ja, oder besser, schon
gestern abend hatte ich eine kleine Vorahnung. Man hätte es
35
mir ansehen müssen. Warum habe ich es nur im Geschäfte
nicht gemeldet! Aber man denkt eben immer, daß man die
Krankheit ohne Zuhausebleiben überstehen wird. Herr Proku-
rist! Schonen Sie meine Eltern! Für alle die Vorwürfe, die Sie
mir jetzt machen, ist ja kein Grund; man hat mir ja davon
40
auch kein Wort gesagt. Sie haben vielleicht die letzten Aufträ-
ge, die ich geschickt habe, nicht gelesen. Übrigens, noch mit
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 10 -
dem Achtuhrzug fahre ich auf die Reise, die paar Stunden
Ruhe haben mich gekräftigt. Halten Sie sich nur nicht auf, Herr
Prokurist; ich bin gleich selbst im Geschäft, und haben Sie die
Güte, das zu sagen und mich dem Herrn Chef zu empfehlen!"
5
Und während Gregor dies alles hastig ausstieß und kaum
wußte, was er sprach, hatte er sich leicht, wohl infolge der im
Bett bereits erlangten Übung, dem Kasten genähert und ver-
suchte nun, an ihm sich aufzurichten. Er wollte tatsächlich die
Tür aufmachen, tatsächlich sich sehen lassen und mit dem
10
Prokuristen sprechen; er war begierig zu erfahren, was die
anderen, die jetzt so nach ihm verlangten, bei seinem Anblick
sagen würden. Würden sie erschrecken, dann hatte Gregor
keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie
aber alles ruhig hinnehmen, dann hatte auch er keinen Grund
15
sich aufzuregen, und konnte, wenn er sich beeilte, um acht
Uhr tatsächlich auf dem Bahnhof sein.
Zuerst glitt er nun einige Male von dem glatten Kasten ab,
aber endlich gab er sich einen letzten Schwung und stand
20
aufrecht da; auf die Schmerzen im Unterleib achtete er gar
nicht mehr, so sehr sie auch brannten. Nun ließ er sich gegen
die Rückenlehne eines nahen Stuhles fallen, an deren Rändern
er sich mit seinen Beinchen festhielt. Damit hatte er aber auch
die Herrschaft über sich erlangt und verstummte, denn nun
25
konnte er den Prokuristen anhören.
"Haben Sie auch nur ein Wort verstanden?", fragte der Prokurist die Eltern, "er macht sich doch wohl nicht einen Narren aus uns?" "Um Gottes willen", rief die Mutter schon unter Weinen, "er ist vielleicht schwer krank, und wir quälen ihn. Grete!
30
Grete!" schrie sie dann. "Mutter?" rief die Schwester von der anderen Seite. Sie verständigten sich durch Gregors Zimmer.
"Du mußt augenblicklich zum Arzt. Gregor ist krank. Rasch um den Arzt. Hast du Gregor jetzt
Weitere Kostenlose Bücher