Erzählungen
wäre
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 128 -
sicherlich auch seine Pflicht gewesen, über den Wäschewechsel
seines Vaters zu wachen. Er hatte mit seiner Braut darüber,
wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, noch nicht
ausdrücklich gesprochen, denn sie hatten stillschweigend vor-
5
ausgesetzt, daß der Vater allein in der alten Wohnung bleiben
würde. Doch jetzt entschloß er sich kurz mit aller Bestimmt-
heit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen. Es
schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die
dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könn-
10
te.
Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckli-
ches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum
Bett hin merkte, daß an seiner Brust der Vater mit seiner Uhr-
kette spielte. Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest 15
hielt er sich an dieser Uhrkette.
Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich
selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit
über die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.
"Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?" fragte Georg 20
und nickte ihm aufmunternd zu.
"Bin ich jetzt gut zugedeckt?" fragte der Vater, als könne er nicht nachschauen, ob die Füße genug bedeckt seien. "Es
gefallt dir also schon im Bett", sagte Georg und legte das
Deckzeug besser um ihn.
25
"Bin ich gut zugedeckt?" fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen. "Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt." "Nein!" rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß
sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand
30
aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond.
"Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen,
aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte
Kraft, genug für dich, zuviel für dich. Wohl kenne ich deinen
Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hat du
35
ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst?
Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint? Darum doch
sperrst du dich in dein Büro, niemand soll stören, der Chef ist
beschäftigt nur damit du deine falschen Briefchen nach Ruß-
land schreiben kannst. Aber den Vater muß glücklicherweise
40
niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt ge-
glaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt,
_________________________________________________________________
Franz Kafka: Erzählungen
- 129 -
daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er
rührt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten
entschlossen!"
Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Peters-
5
burger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff
ihn wie noch nie. Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An
der Türe des leeren, ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwi-
schen den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den
fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er so
10
weit wegfahren müssen!
"Aber schau mich an!" rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen, stockte aber in der
Mitte des Weges.
"Weil sie die Röcke gehoben hat", fing der Vater zu flöten 15
an, "weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans", und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man
auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren
sah, "weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung
20
dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken
geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett
gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich
rühren oder nicht?" Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.
25
Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor
einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles voll-
kommen genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf
Umwegen, von hinten her, von oben herab überrascht werden
könne. Jetzt erinnerte er sich wieder an den längst vergesse-
30
nen Entschluß und vergaß ihn, wie man einen kurzen Faden
durch ein Nadelöhr zieht.
"Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!" rief der Vater, und sein hin und her bewegter Zeigefinger
Weitere Kostenlose Bücher