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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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habe Angst, ihm zu begegnen, ich könnte nicht schweigen, die Wahrheit aber muß ihn verletzen, wenn sie ihn nicht wenigstens verletzt, wenn ich nicht wenigstens ... Aber tatsächlich habe ich mich schon längst damit abgefunden, mich vor ihm gänzlich zurückzuziehen, und die Wahrscheinlichkeit, daß ich ihm auf einmal gegenüberstehe, alles, nur nicht die Wahrheit sage, nicht sage, was ich über ihn denke, daß ich ihn nicht verletze, daß ich ihn nicht einmal irritieren werde, daß ich dann zu schwach bin, ist größer als die Wahrscheinlichkeit, daß ich offen und also stark bin, wenn es darauf ankommt ... Wenn ich, innerhalb der Kraftlosigkeit, aus der ich ja nicht mehr heraus kann, nur ein einziges Mal die Kraft hätte, meinem Onkel ins Gesicht zu sagen, was ich über ihn denke, was ich in bezug auf das Verhältnis zwischen ihm und meiner Mutter, die sich jetzt nicht mehr wehren kann, über ihn denke! Es ist aber für mich bereits eine Unmöglichkeit, an meinen Onkel heranzukommen ... Warum aber, denke ich, habe ich sein Angebot, in den Steinbrüchen zu arbeiten, unter allen diesen fürchterlichen Umständen und Voraussetzungen angenommen? Warum bin ich überhaupt da? Und, denke ich, warum habe ich ihm nicht zu dem Zeitpunkt, als er mir das mündliche Angebot, in die Steinbrüche zu gehen, gemacht hat (»Geh doch in meine Steinbrüche!«), ich habe noch seinen väterlich-zynischen Ton im Ohr, die Wahrheit ins Gesicht gesagt und mich damals, nicht jetzt , jetzt ist es zu spät, für alle Zeit in die Erinnerung entsetzlicher Wahrheit gerufen? War ich schon damals, als es zu der zufälligen Zusammenkunft zwischen meinem Onkel und mir im Hause seines Schwagers gekommen war, ein Opfer meiner Kraftlosigkeit gewesen? Wenn ich, denke ich, über meine Lage, über meinendamaligen entsetzlichen Geistes- und Körperzustand vor den beiden Männern geschwiegen hätte ... Oder wenn ich wenigstens sein Angebot, in den Dienst der Steinbrüche zu treten, sofort und ohne Umschweife abgelehnt hätte ... Aber ich habe meinen Onkel, nicht mehr Herr meiner Verzweiflung, in mich hineinschauen lassen ... Den Feinden, vor allem seinen Feinden, öffnet ein Mensch wie ich aus Ungeschicklichkeit, aus plötzlicher Verstandes- und Körperschwäche, ständig Tür und Tor. Wahrscheinlich habe ich, um mich, nicht meinen Onkel, zu strafen, ohne zu wissen, wofür zu strafen, mich einer tödlichen Züchtigung ausliefernd, das Angebot meines Onkels, mich um die menschenunwürdigste Billigkeit in die jaureggschen Steinbrüche hinein zu verkaufen, angenommen und bin auch gleich in das Comptoire eingetreten ... Möglicherweise rührt gerade von diesem meinem Entschluß, mich meinem Onkel auszuliefern , seine Verachtung mir gegenüber her, die er mich während des Essens für die Wiener Geschäftsleute so deutlich hat spüren lassen ... Gerade um mir seine Verachtung zeigen zu können, hat er mich zu dem Essen eingeladen ... Es besteht ja die Möglichkeit, daß er damit gerechnet hat, daß ich sein Angebot, in die Steinbrüche arbeiten zu gehen, ablehne ... So viele Möglichkeiten ... Aber der Grund, mich zu dem Essen mit den Wiener Geschäftsleuten einzuladen, war sicher der, mich auf längere Zeit zu verletzen, möglicherweise beabsichtigte er damals sogar meine völlige Zerstörung ... In mir sah er zeitlebens immer alle Verbrechen, die er an meiner Mutter begangen hatte ... Aber um das Verhältnis meines Onkels zu meiner Mutter genauer charakterisieren zu können, müßte ich in Gedanken weit in beider Kindheit zurückgehn. Mein Gehirn besitzt ein ganzes, in Hunderte von Abteilungen gegliedertes Archiv, dieses Verhältnis betreffend ... Schon vor seiner Geburt war mein Onkel von der Natur ausersehen, dazu bestimmt gewesen, das Leben meiner Mutter systematisch zu zerstören, sie eines grauenhaften Sterbens immer immernoch leben zu lassen. Die ganze Grauenhaftigkeit, die die Natur in ihn gelegt hatte, entwickelte mein Onkel durch seine hohe Intelligenz langsam und mit immer noch größerer Raffinesse zur planvollen Vernichtung seiner Schwester, meiner Mutter ... Der Höhepunkt dieses Vernichtungskonzeptes, besser Vernichtungsprozesses, war dann die Nacht, die meine Mutter mit meinem Onkel zusammen im Forsthaus verbracht und nach welcher sie sich auf die bekannte fürchterliche Weise das Leben genommen hat. Kein Mensch kennt die Vorfälle im Forsthaus in dieser Nacht, und doch sind sie mir in jahrelanger Schlaflosigkeit bis in die kleinsten

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