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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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oder gerade weil ich ein Mensch sei, der, so scheine es ihm, für ihn das größtmögliche Verständnis aufbringe, sei er an meiner Seite immer dazu verurteilt, im besten Falle, wie er sich ausdrückt, »lächerliche, ja peinliche Bemerkungen« zu machen, ja, oder zur absoluten Schweigsamkeit verurteilt, was ihm fortwährende Qual verursache. Wochenlang gehen wir jetzt schon nebeneinander spazieren und haben noch kein einziges Gespräch geführt. Tatsächlich sind wir, der neue Erzieher und ich, der alte, bis zu diesem Augenblick zu keinem einzigen Gespräch fähig gewesen; die Bemerkungen über die außergewöhnlichen Witterungskonstellationen, über Farben,den Egoismus der Natur, blitzartige Exzesse auf der voralpenländischen Erdoberfläche, über gelesene, ungelesene Bücher, Absichten, Absichtslosigkeiten, über die katastrophale Unlust aller Zöglinge am Studieren, über die eigene Unlust, über Essen und Schlafen, Wahrheit und Lüge, vornehmlich aber über die von den Verantwortlichen auf das gemeinste vernachlässigten Waldwege, die wir gehen, sind keine Gespräche; unsere Bemerkungen zerstören unseren Gesprächswillen, unsere Bemerkungen, wie die Bemerkungen überhaupt, die von ihm so genannten »Versuche zu Hilfszeitbildern«, haben mit dem Gesprächsbegriff nichts zu tun. Hier auf dem Mönchsberg machen wir, gehend, gehend und denkend , jeder für sich und ganz eingeschlossen, Hunderte von Bemerkungen, aber es ist uns noch kein Gespräch gelungen, wir dulden kein Gespräch. Es mangelt uns, weil wir wir sind, nicht an Gesprächsstoff, wir gestatten uns nicht, ihn für reine Unterhaltungszwecke gefügig zu machen. Seit Schulbeginn gehen wir wie über den grauenhaften Schulkonzentrationen miteinander nebeneinander spazieren und haben noch kein einziges Gespräch geführt. Als verabscheuten wir das Gespräch, verhindern wir es. Das Gespräch als der Ausdruck der allerlächerlichsten Menschenerbärmlichkeiten ist uns nicht möglich. Was das Gespräch betrifft, so sind wir beide Naturen, die es verhindern müssen, um uns vor dem tödlichen Erschrecken in einen totalitären Wahnsinn zu retten. Auch heute ist kein Gespräch zustande gekommen. Wir gehen weit außerhalb und über und mitten in der Stadt durch eine groteske Kalkalpenbotanik, dauernd kritischer Beobachtung ausgeliefert und dauernd kritisch beobachtend. Die Beruhigung eines Gesprächs – wir gestatten sie uns nicht. Tatsächlich bezeichnete der neue Erzieher das, was er heute während des Spaziergangs anfänglich als ein »Geständnis« zu werten sich die Freiheit genommen hatte, so, als wollte er von vornherein einen Eingriff meinerseits in dieses »Geständnis« verhindern, unmöglich machen, schon nach ein paar Sätzenwieder nur als eine Bemerkung. Diese heutige Bemerkung aber hat die größte Wichtigkeit. Im Hinblick auf seine Person und im Hinblick vor allem auf das Verhältnis zwischen der seinen und der meinigen erweist sich die heutige Bemerkung des neuen Erziehers als die aufschlußreichste.
    Der neue Erzieher schloß sich mir nach dem Vormittagsunterricht unter den Fenstern des großen Schlafsaals an. Er war bleich vor Überanstrengung, klagte aber nicht. Seine Bedürfnislosigkeit beschäftigte mich in Gedanken, während wir rasch vorwärts, schließlich bis vor die Mauern der Brauerei kamen, auf die schmerzhafteste Weise, als er plötzlich von seiner frühesten Kindheit und dann sofort von der Schlaflosigkeit, die ganz eng mit seiner frühesten Kindheit zusammenhängt, zu reden anfing. Diese ihm rücksichtslos eingeborene Schlaflosigkeit verschlimmere sich genau mit der Zeit, und es gebe kein Mittel gegen sie. Es sei absurd, jetzt auf einmal zu sagen, daß er an Schlaflosigkeit leide – alles sei absurd –, und daß seine Schlaflosigkeit jene absolut gehirn- und körperzerstörende sei, die Todesursache für ihn, für sein Geständnis aber, »für das Folgende«, sei, was er jetzt nicht verschweigen könne, unerläßlich.
    »Wenn Sie sich vorstellen«, sagte er, »daß ich schon als Kind zehn, zwölf Nächte hintereinander wach im Bett habe liegen müssen, todmüde, ohne schlafen zu können.« »Ein Erwachsener«, sagte er, »kann seine Schlaflosigkeit vermöge seiner Intelligenz beherrschen, sie lächerlich machen, ein Kind nicht. Ein Kind ist der Schlaflosigkeit ausgeliefert.« Über dem Neutor, ohne wie sonst senkrecht auf die Stadt hinunterzuschauen, gingen wir, wie tagtäglich, nach rechts, nicht nach links: er will nach rechts,

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