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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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geht nach rechts, also gehe ich auch nach rechts, weil er an dieser Stelle über dem Neutor immer nach rechts gegangen ist, getraut er sich jetzt nicht mehr, nach links zu gehen, denke ich ... Es ist an mir, eines Tages nach links zu gehen, dann geht er auch nach links, geht mir nach, weil er der Noch-Schwächere ist ... Aus demselben Grund folge ich ihm jetztschon wochenlang nach rechts ... Warum? Das nächste Mal gehe ich einfach nach links, dann geht er auch nach links ... Die Zeit, in welcher es ihm nützlich sein kann, wenn ich ihn gewohnheitsmäßig nach rechts gehen lasse, ihm nach rechts folge, ist vorbei, denke ich, jetzt schade ich ihm nur, wenn ich ihn nach rechts gehen lasse und ihm folge ... Er hat nicht mehr die Kraft, auf einmal nach links zu gehen ... Kurz nach der Abzweigung sagte er: »Was ich Ihnen in bezug auf meine Schlaflosigkeit gesagt habe, hängt mit meiner Entlassung aus der Innsbrucker Anstalt, in der ich, wie Sie wissen, bis vor den Ferien beschäftigt gewesen bin, zusammen.« Er sagte: »Ich habe mein Leben lang nur ein entsetzliches Leben geführt, und es ist mein Recht, ein entsetzliches Leben zu führen, und dieses entsetzliche Leben ist meine Schlaflosigkeit ... Aber jetzt die Geschichte, die zu meiner Entlassung aus der Innsbrucker Anstalt geführt hat. Wie alle meine Geschichten fängt sie damit an, daß ich nicht habe schlafen können. Ich habe nicht ein schlafen können. Ich nehme viele Mittel ein, aber mir hilft kein Mittel mehr. Ich war«, sagte er, »mit meinen Schülern stundenlang auf dem Nordufer entlanggelaufen. Wir alle waren müde. Mit offenen Augen, unfähig, mich durch Lektüre abzulenken, bin ich, meiner lebenslänglichen Schlaflosigkeit ausgeliefert, in den niederträchtigsten Gedanken festgehalten gewesen und habe mir immer wieder gesagt: sie schlafen, ich schlafe nicht, sie schlafen, ich schlafe nicht, ich schlafe nicht, sie schlafen, ich schlafe nicht ... Diese Internatsruhe, diese von den Schlafsälen ausgehende entsetzliche Ruhe ... Wenn alles schläft, nur ich schlafe nicht, ich nicht ... Dieses ungeheure Kapital in den Schlafsälen der jungen Menschen, habe ich gedacht ... Die Föhnzustände, die den Schlaf in die Menschen hineinstopfen und die den Schlaf aus den Menschen heraussaugen ... Die Zöglinge schlafen, ich schlafe nicht ... Diese endlosen Absterbensnächte für Herz und Geist ... Tief in dem Bewußtsein, daß es kein Mittel gegen meine Schlaflosigkeit gibt, habe ichnicht einschlafen können ... Sie müssen sich vorstellen, daß ich schon wochenlang nicht mehr geschlafen habe ... Es gibt Leute, die behaupten, sie schlafen nicht, schlafen aber. Es gibt welche, die behaupten, wochenlang nicht mehr geschlafen zu haben, und haben immer vorzüglich geschlafen ... Aber ich habe wirklich wochenlang nicht mehr geschlafen! Wochenlang, monatelang! Wie aus meinem Gekritzel, meinen Aufzeichnungen hervorgeht, habe ich monatelang nicht geschlafen. Ich habe ein dickes Heft, in dem ich über meine Schlaflosigkeit Buch führe. Jede Nachtstunde, in der ich nicht schlafe, ist durch einen schwarzen Strich gekennzeichnet, jede Nachtstunde, in der ich schlafe, durch einen schwarzen Punkt. Dieses Heft«, sagte der neue Erzieher, »enthält Tausende von schwarzen Strichen und nur fünf oder sechs Punkte. An der Genauigkeit, mit welcher ich über meine Schlaflosigkeit Buch führe, werden Sie ja, nehme ich an, da Sie mich ja doch jetzt schon kennen, nicht zweifeln. Und in dieser Nacht, deretwillen ich jetzt auf einmal wieder in einer Weise aufgebracht bin, daß ich fürchte, es könnte Anstoß, ja, bei Ihnen Anstoß erregen, in dieser Nacht nach einem Tag voller Ärgernisse, was meine Schüler betrifft, pausenloser, jugendlicher Unsinnigkeit, Unerträglichkeit, habe ich, die unnachgiebig perverse Felswand des Hafelekar vor dem Kopf, nicht schlafen, nicht einschlafen können, auch nicht unter Heranziehung geradezu der peinlichsten Ausflüchte in ja bei mir schon katastrophale Lektüremöglichkeiten ... Ich blätterte da«, sagte er, »völlig konfus in Furcht und Zittern und in Entweder-Oder und in den pascalschen Gedankenpartikelchen herum, als handelte es sich um populär-masochistische Arzneibücher für Fälle ganz untergeordneten Schwachsinns ... Dann plötzlich, gegen zwei Uhr früh, in dem Augenblick, in welchem sich meine Müdigkeit gegen meine Schlaflosigkeit durchsetzen konnte, das fühlte ich plötzlich: die Müdigkeit fing an, die Schlaflosigkeit zu hintergehen,

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