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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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habe nichts gegessen und, fällt mir ein, über eine Woche lang mit keinem Menschen mehr gesprochen, als ich plötzlich angesprochen bin: ein Mann hat mich angesprochen, ich höre, daß mich ein Mann fragt, wie spät es sei, und ich höre mich »Acht Uhr« rufen.
    »Es ist acht Uhr«, sage ich, »das Theater hat angefangen.«
    Jetzt drehe ich mich um und sehe den Mann.
    Der Mann ist groß und mager.
    Außer diesem Mann ist niemand im Volksgarten, denke ich.
    Sofort denke ich, daß ich nichts zu verlieren habe.
    Aber den Satz: » Ich habe nichts zu verlieren! « auszusprechen, laut auszusprechen, erscheint mir unsinnig, und ich spreche den Satz nicht aus, obwohl ich die größte Lust habe, den Satz auszusprechen.
    Er habe seine Uhr verloren, sagte der Mann.
    »Seit ich meine Uhr verloren habe, bin ich gezwungen, von Zeit zu Zeit Menschen anzusprechen.«
    Er lachte.
    »Hätte ich nicht meine Uhr verloren, hätte ich Sie nicht angesprochen«, sagte er, » niemanden angesprochen.«
    Ihm sei die Beobachtung an sich selber höchst interessant, sagte der Mann, daß er, wie er, nachdem ich ihm gesagt hatte, daß es acht Uhr ist, jetzt weiß, daß es acht Uhr ist und daß er am heutigen Tag elf Stunden ununterbrochen – »ohne Unterbrechung«, sagte er – in einem einzigen Gedanken gegangen sei, »nicht auf und ab« sagte er, sondern »immer geradeaus, und wie ich jetzt sehe«, sagte er, »doch immer im Kreis. Verrückt, nicht wahr?«
    Ich sah, daß der Mann Frauenhalbschuhe anhatte, und derMann sah, daß ich gesehen hatte, daß er Frauenhalbschuhe anhatte.
    »Ja«, sagte er, »jetzt mögen Sie sich Gedanken machen.« »Ich habe«, sagte ich rasch, um den Mann und mich von seinen Frauenhalbschuhen abzulenken, »einen Theaterbesuch machen wollen, aber unmittelbar vor dem Theater habe ich kehrtgemacht und bin nicht in das Theater hineingegangen.«
    »Ich bin sehr oft in diesem Theater gewesen«, sagte der Mann, er hatte sich vorgestellt, ich hatte aber seinen Namen sofort vergessen, ich merke mir Namen nicht, »eines Tages zum letzten Mal, wie jeder Mensch eines Tages zum letzten Mal in ein Theater geht, lachen Sie nicht!« sagte der Mann, »alles ist einmal zum letzten Mal, lachen Sie nicht!«
    »Ach«, sagte er, »was wird denn heute gespielt? Neinnein«, sagte er rasch, »sagen Sie mir nicht, was heute gespielt wird ...«
    Er ginge jeden Tag in den Volksgarten, sagte der Mann, »seit Saisonbeginn gehe ich immer um diese Zeit in den Volksgarten, um hier, von dieser Ecke aus, von der Meiereimauer aus, sehen Sie, die Theaterbesucher beobachten zu können. Merkwürdige Leute«, sagte er.
    »Freilich, man müßte wissen, was heute gespielt wird«, sagte er, »aber sagen Sie mir nicht, was heute gespielt wird. Für mich ist das äußerst interessant, einmal nicht zu wissen, was gespielt wird. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?« fragte er und sagte sofort: »Neinnein, sagen Sie nicht, was es ist . Sagen Sie es nicht!«
    Der Mann ist fünfzig, oder er ist fünfundfünfzig, denke ich.
    Er macht den Vorschlag, in Richtung zum Parlament zu gehen.
    »Gehen wir bis vor das Parlament«, sagt er, »und wieder zurück. Merkwürdig still ist es immer, wenn die Vorstellung angefangen hat. Ich liebe dieses Theater ...«
    Er ging sehr rasch, und es war mir fast unerträglich, ihmdabei zuzuschauen, der Gedanke, daß der Mann Frauenhalbschuhe anhat, verursachte mir Übelkeit.
    »Hier gehe ich jeden Tag die gleiche Anzahl von Schritten, das heißt«, sagte er, »mit diesen Schuhen gehe ich von der Meierei bis zum Parlament, bis zum Gartenzaun, genau dreihundertachtundzwanzig Schritte. In den Spangen schuhen gehe ich dreihundertzehn. Und zum Schweizertrakt – er meinte den Schweizertrakt der Hofburg – gehe ich genau vierhundertvierzehn Schritte mit diesen Schuhen, dreihundertneunundzwanzig mit den Spangen schuhen! Frauenschuhe, mögen Sie denken und es mag Ihnen widerwärtig sein, ich weiß«, sagt der Mann.
    »Aber ich gehe auch nur in der Dunkelheit auf die Straße. Daß ich jeden Abend um diese Zeit, immer eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn, in den Volksgarten gehe, beruht, wie Sie sich denken können, auf einer Erschütterung. Diese Erschütterung liegt jetzt schon zweiundzwanzig Jahre zurück. Und sie hängt ganz eng mit den Frauenhalbschuhen zusammen. Zwischenfall«, sagt er, »ein Zwischenfall. Es ist ganz die Stimmung von damals: der gerade aufgegangene Vorhang im Theater, die Schauspieler fangen zu spielen an, die

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