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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Wahrheit sind. Es sei dieses Unglück, das, nähert man sich uns, spricht man mit uns, bevor man noch an uns herankommt, zu überbrücken sei. Ohne den geringsten Verdacht habe sich wohl noch niemals ein Mensch uns zu nähern getraut, sei es körperlich, in Gedanken. Und dieser Verdacht, der immer ein ganz bestimmter Verdacht sei, verstärke sich mit den Jahren, dieser Verdacht werde es einmal, wahrscheinlich schon in der kürzesten Zeit bis zur Unmöglichkeit erschweren, mit uns auch noch irgendeinen Kontakt aufzunehmen. In völliger Kontaktlosigkeit, aber möglicherweise in dem idealsten Zustand, in einer nur uns selbst reproduzierbaren Idealverfassung, würden wir, meint er, eines Tages völlig unbehelligt uns unser Ziel verwirklichen können. Als Gespräch zu bezeichnen, was in Wirklichkeit ein rücksichtsloser Wirbel von Tausenden von überstürzten Gedanken gewesen ist an dem gestrigen Abend, wäre falsch. Wir sahen gestern ganz deutlich, was wir denken, ist unübersichtlich wie das, was er denkt, gerade das erfrischte uns. Während aber an dem Abend ganz deutlich geworden ist, daß der Engländer noch eine Zukunft hat, war uns, Franz und mir, wieder vollkommen klar geworden, daß wir keine Zukunft mehr haben. Wenn nur einer von uns noch ein einziges Mal die Kraft hätte, von Stilfs hinunter zu gehn, Stilfs den Rücken zu kehren, sich in die Welt hinein zu getrauen, denke ich, nicht mehr zurückzukehren, selbst um die Beschuldigung, dadurch ein Verbrechen an unserer Schwester Olga begangen zu haben, die auf uns angewiesen ist, sie vernichtet zu haben! Was mir nicht möglich ist und für mich zu spät ist, müsse doch für Franz möglich und nicht zu spät sein, aber für uns ist alles zu spät. Der Augenblick, in welchem noch möglich gewesen wäre, was jetzt nicht mehr möglich ist, Stilfs zu entkommen, liegt uns schon so lange zurück, daß ergar nicht mehr ausgemacht werden kann. Zuerst haben wir ja, wie der Engländer, geglaubt, Stilfs sei unsere Rettung, der Idealzustand für uns und als wir gesehen haben und eingesehen haben, daß Stilfs nicht unsere Rettung, nicht der Idealzustand für uns ist, nicht sein kann, im Gegenteil, daß er unsere Vernichtung bedeutet, haben wir gehofft, daß die jetzt schon vollständig gelähmte Olga stürbe. Aber sie starb nicht, wer weiß, wann sie sterben wird. Und jetzt, da wir alle schon die Kraftlosigkeit selbst sind, hätte es auch gar keinen Zweck mehr, sie zu verlassen. Es ist alles eine Frage der Zeit und diese Frage erschreckt uns nicht mehr, weil wir wissen, daß wir am Ende sind und das Leben für uns keinen Sinn mehr hat.

D ER W ETTERFLECK
    Von dem Innsbrucker Anwalt Enderer, unserem Vormund, erfuhren wir (wörtlich) folgendes: ... zwanzig Jahre bin ich, vornehmlich in der Saggengasse und vornehmlich in der Mittagszeit, an dem Menschen vorbeigegangen, ohne zu wissen, wer der Mensch ist, umgekehrt ist dieser Mensch zwanzig Jahre vornehmlich in der Saggengasse und vornehmlich in der Mittagszeit, an mir vorbei gegangen, ohne zu wissen, wer ich bin ... dabei ist der Mensch aus der Saggengasse!, wenn auch aus der Oberen Saggengasse, während ich aus der Unteren Saggengasse bin, beide sind wir in der Saggengasse aufgewachsen und tatsächlich, denke ich, habe ich den Menschen schon immer gesehen, ohne zu wissen, daß er aus der Saggengasse ist und ohne zu wissen, wer er ist, umgekehrt hat der Mensch von mir nichts gewußt ... jetzt denke ich, daß mir seit Jahren etwas auffallen hätte müssen an dem Menschen, sein Wetterfleck hätte mir auffallen müssen ... vorwurfsvoll sage ich mir, wir gehen jahrelang, jahrzehntelang an einem Menschen vorbei, ohne zu wissen, wer der Mensch ist und wenn uns etwas auffallen sollte an dem Menschen, uns fällt an dem Menschen nichts auf und wir könnten ein ganzes Leben an einem solchen Menschen vorbeigehen und es fiele uns an dem Menschen nichts auf ... plötzlich fällt uns an dem Menschen, an welchem wir zwei Jahrzehnte vorbei gegangen sind, etwas auf, sei es der Wetterfleck, sei es etwas ganz anderes, plötzlich fiel mir an dem Menschen der Wetterfleck auf und in Zusammenhang damit, daß der Mensch in der Saggengasse wohnt und daß er mit Vorliebe an der Sill spazieren geht ... vor einer Woche hat mich dieser Mensch in der Herrengasse angesprochen und der Mann ist mit mir in die Kanzlei herauf, während des Stiegensteigens war mir klar, den Menschen siehst du schon zwei Jahrzehnte, immer den gleichen Menschen, immer den gleichen

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