Erzaehlungen
Berufe nachgingen, im Stadtgarten herumspazierte, meldeten sich in ihm leise Regungen des Gewissens, als wäre er nicht nur sich selbst, sondern auch jemandem anderen Rechenschaft schuldig, und er wußte, daß diese andere Sabine war. Der Gedanke an die Anstalt des Doktor Frank drängte plötzlich mit Macht sich wieder auf; Gräsler überdachte allerlei bauliche Änderungen, erwog die Errichtung neuer Baderäume, entwarf Prospekte in Worten von überzeugender Kraft, wie sie ihm bisher noch niemals so verwegen zugeströmt waren, und schwor sich zu, daß er in derselben Stunde, in der von Sabinen eine Nachricht käme, zurückreisen und die Sache in Ordnung bringen werde. Wenn sie aber auch seinen letzten Brief unbeantwortet ließe, dann war alles zu Ende, zumindest zwischen ihm und ihr. Denn auch den Kauf des Sanatoriums ausschließlich von Sabinens Verhalten abhängig zu machen, dazu lag kein Grund vor, und es wäre wahrhaftig kein übler, ja sogar ein etwas verteufelter Gedanke, mit einer anderen Frau Direktorin in das herrlich umgestaltete Gebäude Einzug zu halten – womöglich mit einer, die ihn just nicht für einen egoistischen, pedantischen, langweiligen Gesellen hielt, wie Sabine es tat. Und wenn es ihm etwa beliebte, Fräulein Katharina als Begleiterin auszuersehen, dann dürfte ihn wohl niemand mehr für einen Pedanten oder Philister halten. Er ließ sich auf einer Bank nieder. Kinder liefen an ihm vorüber. Im gelblichen Laub flössen herbstliche Strahlen hin. Von einer fernen Fabrik her tönte das Mittagszeichen des Nebelhorns. Heute abend, dachte er. Heute abend! Steigt die Jugend noch einmal auf? Ist es denn noch an der Zeit für solche Abenteuer? Sollte man nicht doch auf der Hut sein? Fortreisen? Gleich ganz fort – das nächste Schiff nehmen und nach Lanzerote? Oder zurück – zu Sabine? Zu dem Wesen mit der reinen Seele? Hm! Wer weiß, wie sich ihr Leben gestaltet hätte, wenn ihr im gegebenen Moment der Richtige begegnet wäre – nicht gerade ein unverschämter Tenor oder ein kopfhängerischer Medizinmann ... Er erhob sich und begab sich zunächst zum Mittagessen in den vornehmen Gasthof, wo man durch die Fachsimpelei der jungen Kollegen nicht behelligt wurde wie gestern; über alles andere konnte man nachher schlüssig werden.
Zehntes Kapitel
Kaum hatte er sich nachmittags an seinen Arbeitstisch gesetzt und den eben daliegenden anatomischen Atlas aufgeschlagen, als es klopfte und die Setzersgattin, die sich erbötig gemacht hatte, sein Junggesellenheim zu betreuen, bei ihm eintrat und unter vielen Entschuldigungen die Bitte vorbrachte, ob der Herr Doktor nicht vielleicht die Gnade haben und ihr aus der Garderobe des leider verstorbenen gnädigen Fräuleins ein oder das andere Kleidungsstück schenken wollte. Gräsler runzelte die Stirn. Diese Person, dachte er, hätte eine solche, fast unverschämte Forderung nicht gewagt, wenn sie nicht wüßte, daß ich hier in meiner Wohnung Damenbesuche empfange. Er erwiderte ausweichend, daß er im Sinne der Verstorbenen deren Hinterlassenschaft vor allem Wohltätigkeitsanstalten zuzuwenden gedenke, doch habe er überhaupt noch nicht Zeit zur Nachschau gefunden und könne daher vorläufig keinesfalls etwas versprechen. Es zeigte sich, daß die Frau für alle Fälle den Bodenschlüssel mitgebracht hatte; sie überreichte ihn dem Doktor mit einem zudringlichen Lächeln, dankte so überschwenglich, als wäre ihre Bitte schon erfüllt worden, und entfernte sich. Da Gräsler nun einmal den Schlüssel in der Hand hatte, und er im Grunde froh war, für die nächsten leeren Stunden eine Art Zeitvertreib gefunden zu haben, beschloß er, dem Bodenraum, den er seit Kinderzeiten nicht gesehen, einen Besuch abzustatten. Er stieg die Holztreppe hinauf, öffnete und betrat ein enges Gelaß, das durch das schräge Dachfenster so spärliches Licht erhielt, daß Gräsler sich nur allmählich zurechtfinden konnte. Überflüssiger und vergessener Hausrat stand in den dämmerigen Winkeln, die Mitte aber war von Kisten und Koffern erfüllt. Der erste, den Gräsler aufschloß, schien nichts zu enthalten als alte Vorhänge und Hauswäsche, und Gräsler, der ja doch nicht daran dachte, hier selber auszupacken und Ordnung zu machen, ließ den Deckel wieder fallen. Eine längliche, sargartige Kiste, die er nun öffnete, ließ einen merkwürdigen Inhalt vermuten. Gräsler sah allerlei beschriebene Papiere vor sich liegen, zum Teil in Aktenformat, Briefe in Umschlägen, größere
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