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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Platze.
    »Nun, liebes Fräulein, sagte Scholastica erstaunt, das Abendessen ist vorüber und die Zeit zur Gutenacht gekommen. Wollen Sie Ihre Augen mit langen Nachtwachen verderben?… Ach! heilige Jungfrau! es ist doch etwas werth, zu schlafen und schön zu träumen! Wer kann in unserer verwünschten Zeit noch von einem Tage wirklich erlebten Glückes sprechen!
    – Sollen wir nicht einen Arzt für den Vater holen lassen? fragte Gérande als einzige Antwort.
    – Einen Arzt! rief die alte Dienerin. Als ob Meister Zacharius jemals mit einem Ohr auf all ihre Einbildungen und Redensarten gehört hätte! Für Uhren mag es wohl Medicinen geben, das gestehe ich zu, aber für menschliche Körper gewiß nicht.
    – Was können wir thun? flüsterte Gérande. Hat er sich wieder an die Arbeit gemacht, oder ist er zur Ruhe gegangen?
    – Gérande, bemerkte Aubert in beruhigendem Ton, Meister Zacharius wird von irgend einer Widerwärtigkeit darniedergedrückt; das ist Alles.
    – Wissen Sie, um was es sich handelt, Aubert?
    – Vielleicht, Gérande.
    – Erzählen Sie uns doch, rief lebhaft Scholastica und löschte mit weiser Sparsamkeit ihre Kerze.
    – Vernehmen Sie denn, Gérande, begann der junge Mann, daß seit mehreren Tagen eine unbegreifliche Thatsache vor sich geht. Alle Uhren, die Ihr Vater vor Jahren gearbeitet und verkauft hat, bleiben plötzlich stehen und werden ihm zurückgebracht, so daß gegenwärtig eine große Zahl derselben hier beisammen ist. Meister Zacharius hat sie sorgfältig auseinander genommen und die Federn in gutem Stand, das Räderwerk vollkommen in Ordnung gefunden. Er hat die Uhren dann mit noch größerer Sorgfalt wieder zusammengesetzt, aber trotz seiner Geschicklichkeit nicht wieder in Gang bringen können.
    – Dahinter muß der Teufel stecken! rief Scholastica.
    – Wie kannst Du so etwas sprechen! warf Gérande ein; mir scheint das ganz natürlich. Alles auf Erden ist beschränkt, und so kann nichts Unendliches aus Menschenhand hervorgehen.
    – Trotzdem müssen wir zugestehen, daß hier eine geheimnißvolle Macht zu walten scheint, meinte Aubert. Ich selbst bin Meister Zacharius dabei behilflich gewesen, den Grund der merkwürdigen Störung in den Uhren ausfindig zu machen, und habe ihn nicht entdecken können. Mehr als ein Mal entfielen bei der Arbeit vor Verzweiflung die Werkzeuge meiner Hand.
    – Warum gebt Ihr Euch überhaupt mit dieser gottlosen Arbeit ab? versetzte Scholastica; ich frage jeden Menschen, ob es mit rechten Dingen zugeht, wenn so ein kleines, kupfernes Ding ganz für sich allein, ohne alle Hilfe weiter gehen und die Stunden anzeigen kann? Man hätte sich mit der Sonnenuhr zufrieden geben sollen!
    – Das werden Sie nicht mehr sagen, Scholastica, wenn Sie gehört haben, daß die Sonnenuhr von Kain erfunden ist.
    – Herr Gott, ist’s möglich! rief Scholastica.
    – Glauben Sie wohl, fragte Gérande harmlos unbefangen, daß wir den lieben Gott bitten dürfen, er möchte den Uhren meines Vaters ihr Leben wieder geben?
    – Gewiß glaube ich das, erwiderte der junge Gehilfe.
    – Das werden ganz vergebliche Gebete sein, brummte die alte Magd; aber der Himmel wird sie hoffentlich verzeihen.«
    Die Kerze wurde wieder angezündet; Scholastica, Gérande und Aubert knieten auf die Fliesen des Zimmers nieder, und das junge Mädchen betete für die Seele ihrer Mutter, um Frieden und Heiligung in der Nacht, für die Reisenden und Gefangenen, für die Guten und Bösen und besonders für die unenträthselte Traurigkeit ihres Vaters.
    Dann standen die drei Andächtigen mit neuem Vertrauen wieder auf, denn sie hatten ihre Sorgen in Gottes Hand gelegt.
    Aubert zog sich nun auf sein Zimmer zurück, Gérande setzte sich in tiefen Gedanken an’s Fenster und sah, wie die letzten Lichter in der Stadt erloschen, und Scholastica schob die beiden großen Riegel vor die Hausthüre, goß ein wenig Wasser auf die noch flammenden Feuerbrände und begab sich auf ihr Lager, wo sie alsbald träumte, daß sie vor Furcht und Schrecken stürbe.
    Inzwischen hatten die Schauer der Winternacht noch zugenommen; zuweilen verfing sich der Wind in den Wirbeln des Stroms unter den Grundpfählen, und das Haus erzitterte in seinen Fugen, aber an dem Geist des jungen Mädchens ging dieser Aufruhr der Elemente spurlos vorüber; sie dachte nur an ihren Vater. Seit Aubert Thün ihr Näheres über die Verstimmung desselben mitgetheilt hatte, erschien ihr sein Leiden in eigenthümlich phantastischem Licht, und sie

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