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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Stimmung ihres Vaters sichtlich bekümmert war. Auch das Geschwätz der alten Magd berührte sein Ohr nicht mehr und war ihm so gleichgiltig geworden, wie das früher so gern gehörte Rauschen des Rhonestroms. Nach dem schweigsamen Mahl erhob sich der alte Uhrmacher und verließ das Zimmer, ohne, wie gewöhnlich, seine Tochter zu küssen, noch, wie sonst, den Anwesenden eine, »Gute Nacht« zu bieten. Er verschwand durch die schmale Thür und ging auf der Treppe, die unter seinen gewichtigen Tritten leise zu ächzen und zu klagen schien, nach seinem Arbeitszimmer hinab.
    Gérande, Aubert und Scholastica verharrten einige Minuten in tiefem Schweigen. Es war heute Abend ein düsteres Wetter; die Wolken schleppten sich schwerfällig an den Alpen entlang und drohten, sich in Regen aufzulösen; die rauhe Temperatur der Schweiz stimmte die Seele unwillkürlich schwermuthsvoll, und die Südwinde strichen mit unheilverkündendem Pfeifen um das Haus.
    »Unser Meister ist seit einigen Tagen völlig verändert, mein liebes Fräulein, begann endlich Scholastica; heilige Jungfrau! wenn Jemand so mürrisch ist, daß ihm die Worte im Halse stecken bleiben, kann man sich nicht wundern, wenn kein Bissen hinuntergeht. Wer ihm heute ein Wort entlocken wollte, müßte es sehr geschickt anfangen,
    – Der Vater muß irgend einen geheimen Kummer haben, sagte Gérande sanft, während eine schmerzliche Unruhe sich in ihren Zügen malte; ich kann mir nicht entfernt denken, was ihn so niederdrückt.
    – Fräulein, grämen Sie sich nicht so sehr darüber, Sie wissen, Meister Zacharius hat sonderbare Gewohnheiten, und seine Gedanken sind nicht leicht auf seiner Stirn zu lesen; ihm ist jedenfalls irgend etwas Aergerliches begegnet, aber morgen hat er’s vielleicht schon wieder vergessen, und da wird es ihm leid sein, Ihnen Angst gemacht zu haben.«
    So sprach Aubert, der Gehilfe des alten Meisters, und schaute dabei in die schönen Augen Gérande’s. Er war der Einzige, den Meister Zacharius jemals des Vertrauens bei seinen Arbeiten gewürdigt und den er dazu herangezogen hatte, denn er schätzte ihn seiner Besonnenheit, seiner großen Herzensgüte und seines Verstandes wegen. Aubert hatte sich dem jungen Mädchen mit jenem geheimnißvollen Vertrauen angeschlossen, das bei groß angelegten Leidenschaften vorzuwalten pflegt.
    Gérande war achtzehn Jahre alt, das Oval ihres Gesichtchens erinnerte an das der einfachen Madonnenbilder, die man in den alt-bretagnischen Städten an den Straßenecken aufgehängt findet, und aus ihren Augen sprach die reinste Unschuld und Harmlosigkeit. Man mußte sie lieb haben, wie die holdeste Verwirklichung eines Dichtertraums. Sie kleidete sich in wenig auffallende Farben, und das weiße, auf ihren Achseln gefältelte Leinen erinnerte an jenes zarte Weiß, das den Gewändern der Geistlichkeit eigen zu sein pflegt. Das junge Mädchen führte in Genf, das sich damals noch nicht den trockenen Lehren des Calvinismus gebeugt hatte, ein eigenthümlich mystisches Traumleben.
    Wie Gérande an jedem Morgen und Abend ihre lateinischen Gebete aus ihrem mit eisernen Klammern versehenen Missale ablas, so hatte sie auch in dem Herzen Aubert’s ein tief verborgenes Gefühl der innigen Hingebung gelesen. Das alte Uhrmacherhaus war für ihn eine Welt geworden, und wenn er nach beendeter Arbeit die Werkstätte ihres Vaters verließ, wußte er sich nichts Besseres, als seine Zeit bei Gérande zuzubringen.
    Die alte Scholastica hatte das Alles längst bemerkt, sie sagte jedoch kein Wort darüber; ihre Geschwätzigkeit bemächtigte sich vorzugsweise der kleinen Misèren des Haushalts und der Unglücksfälle, von denen sie hörte. Man pflegte ihr in solchem Geplauder nicht Einhalt zu thun, und man that gut daran, denn sie war in dieser Beziehung mit den Genfer Musik-Tabatièren zu vergleichen, die, einmal aufgezogen, all ihre Weisen abspielen und nur auf die Art zum Schweigen gebracht werden können, daß man sie zerbricht.
    Als Scholastica sah, daß Gérande in ein schmerzvolles Sinnen versunken war, erhob sie sich aus ihrem alten Lehnstuhl, steckte eine Kerze auf den Lenchter, zündete diese an und stellte sie neben eine kleine Jungfrau von Wachs, die in einer steinernen Nische stand. Sonst erflehte Gérande an jedem Abend von dieser Madonna Schutz und Segen für die kommende Nacht und erbat von ihr, als der Beschützerin ihres häuslichen Herdes, wohlwollende Gnade; aber heute verblieb das junge Mädchen ruhig an seinem

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