Erzählungen
der aus etwa hundert Hütten aus Holz und Lehm bestehen mochte. Bei seiner Annäherung stürzte ihm eine Menge Frauen und Kinder mit Freudengeschrei entgegen, doch diese Freude verwandelte sich in sinnloses Wüthen, als sie den Abfall des Martin Paz vernahmen.
Sarah stand regungslos vor ihren Feinden und betrachtete sie mit halb gebrochenem Auge. Alle die häßlichen Gesichter grinsten um sie, und zu ihrem Ohre drangen die fürchterlichsten Drohungen.
»Wo ist mein Gatte? schrie das eine Weib. Du hast ihn getödtet!
– Und mein Bruder, der nicht mehr in seine Hütte zurückgekehrt, wo ist er?
– Zum Tode mit ihr! Jede von uns muß ein Stück ihres Fleisches haben! Zum Tode!«
Mit geschwungenen Messern, lodernden Feuerbränden und großen, zusammengerafften Steinen in den Händen, drangen die Weiber auf das junge Mädchen ein.
»Zurück! herrschte sie da der Sambo an, Alle mögen den Beschluß der Häuptlinge erwarten!«
Die Frauen gehorchten dem Machtspruche des alten Indianers und schossen nur ihre giftigen Blicke auf das unglückliche Opfer. Sarah fiel mit Blut bedeckt auf den Steinen des Flußufers nieder.
Unterhalb jenes Fleckens wälzte der in seinem verengten Felsenbette schäumende Madeira seine Wasser mit schäumender Schnelligkeit nach einem gegen hundert Fuß hohen Falle; in diesem Katarakte sollte Sarah, so lautete der Urtheilsspruch der Häuptlinge, ihren Tod finden.
Mit dem ersten Sonnenstrahle wollte man sie in ein Canot aus Baumrinde binden und der Strömung des Madeira übergeben.
Wenn man den Tod des Schlachtopfers bis zum anderen Tage verschob, so geschah es nur, um ihm eine Nacht der Todesangst und des Entsetzens zu bereiten.
Ein wüthendes Freudengeschrei begrüßte dieses Urtheil, und wie mit gräßlichem Wahnsinn erfüllte es die Männer und Weiber alle.
Eine scheußliche Orgie tobte während der Nacht. Der Branntwein gährte in den erhitzten Köpfen. Tänzer mit verwirrten Haaren umkreisten das Mädchen. Mit funkensprühenden Fichtenbränden rasten andere Indianer umher.
So dauerte es bis zum Aufgange der Sonne, und erschien noch entsetzlicher, als ihre ersten Strahlen die Scene erhellten.
Das junge Mädchen wurde von dem Pfahle, an den man sie gefesselt hatte, gelöst, und hundert Arme streckten sich aus, sie zum Tode zu schleppen. Als nur der Name Martin Paz’ über ihre Lippen kam, erweckte er ein grauenvolles Geheul des Hasses und der Rache. Auf steilen, unwegsamen Pfaden zogen nun alle die gewaltigen Felsmassen hinauf, die man erklettern mußte, um nach dem oberen Niveau des Flusses zu gelangen. Bluttriefend erreichte das Opfer seine Richtstätte. Dort lag hundert Schritte von dem Falle ein Canot aus Baumrinde; in diesem wurde Sarah festgebunden, daß die Fesseln ihr in’s Fleisch einschnitten.
»Unsere Rache!« rief der ganze Stamm wie mit einer Stimme.
Das Canot wurde schnell von der Strömung weggerissen und drehte sich um sich selbst …
Da erschienen zwei Männer am anderen Ufer. Martin Paz und Don Vegal waren es.
»Meine Tochter! Meine Tochter!« entrang es sich dem armen Vater, der am Ufer auf die Kniee fiel.
Das Canot trieb nach dem Falle zu.
Martin Paz war auf einen Felsenvorsprung getreten und schwang den Lasso über seinem Haupte. Eben als das Fahrzeug nahe daran war, in die schäumende Tiefe zu stürzen, schlang sich der lange Lederriemen um dasselbe und hielt es auf.
»Tod dem Verräther!« brüllte die wilde Rotte.
Martin Paz beugte sich vor und zog das Canot von dem Abgrunde zu sich hin …
Da schwirrte ein Pfeil durch die Luft … Martin Paz sank in das Canot neben das Opfer, und der wirbelnde Fall verschlang ihn mit Sarah zugleich.
In demselben Augenblicke durchbohrte ein zweiter Pfeil Don Vegals Herz.
Martin Paz und Sarah hatten sich für das ewige Leben vereinigt, denn mit der letzten Bewegung ihres Lebens salbte das junge Mädchen die Stirn des Indianers im Augenblicke des Todes durch das heilige Sacrament der Taufe!
Jules Verne
Meister Zacharius
Ueber die Oeffnung gebeugt, schaute er in die Fluth. (S. 91.)
Erstes Capitel.
Eine Winternacht.
Die Stadt Genf liegt an der Westspitze des Sees, der nach ihr den gleichen Namen erhalten hat, und wird von der Rhone, wenn sie aus dem See heraustritt, in zwei besondere Stadttheile geschieden; der Fluß selbst theilt sich etwa in der Mitte der Stadt durch eine Insel in zwei Arme. Eine ähnliche topographische Beschaffenheit finden wir bei den großen Centren des Handels und der Industrie häufig,
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