Erzählungen
ganz hinten in einer Tasche, verrunzelt, ein Stück Papier bemerkte. Er zog es ans Licht. Hinter ihm schlich der Polizist Hochroitzpointner auf leisen Gummisohlen durchs Zimmer.
Das Stück Papier war ein Ausschnitt aus einer französischen Zeitung: auf der einen Seite die Ankündigung eines Astrologen, aber die Annonce war nicht vollständig, der zweite Teil fehlte. Auf der anderen Seite ein mit Rotstift angezeichneter Artikel:
»Le traitement rationel du diabète par le professeur Durand.«
Offenbar die Ankündigung eines Buches über die Behandlung der Zuckerkrankheit. Kreibigs Augen wanderten vom Zeitungsausschnitt zum Tisch. Zuckerkrankheit? ... Zucker? ... Zwei hatten am Tisch Schach gespielt und dazu Kaffee getrunken, aber beide hatten sie den Kaffee nicht gesüsst ... Der eine, wohl der Mörder, hatte sein Päckchen auf der kleinen Silberplatte liegen lassen, der Kussmaul aber hatte das Päckchen, bevor er vom Stuhl gefallen war, noch rasch mit der linken Hand gepackt, während die Rechte ... aber das kam später. Die Linke hatte also den Zucker gepackt, der Mörder war aufgestanden, hatte sich ruhig durch die Tür entfernt, dann war der Kussmaul auf den Boden gefallen, war gestorben und in einer immerhin merkwürdigen Stellung erstarrt. Denn die beiden Unterarme, vom Ellbogen an, standen senkrecht in der Luft. Dielinke Hand hielt ein Päckchen Zucker, die rechte einen schwarzen Schachkönig ...
Der Etagenkellner Pospischil Ottokar, verheiratet, wohnhaft Mariahilferstrasse 45, schien für den ermordeten Kussmaul keine übertriebene Hochschätzung aufbringen zu können. Er habe gesoffen, deponierte er, ganze Nächte durch, gespielt habe er auch, mit »Freunderln« ... und Weiber ... aber davon wollte er, Pospischil, gar nicht reden. Dabei sei der Kussmaul krank gewesen, zuckerkrank, habe keine Mehlspeisen essen dürfen, er habe auch einen Spezialisten konsultiert, der habe ihn einmal besucht, ein nobler Herr, Zylinder und weisse Gamaschen und einen schönen weissen Bart, aber an den Namen könne er sich nicht erinnern.
»Ja, Herr Hofrat«, sagte der Kellner Pospischil, der arg verhungert aussah, »da lassen'S am besten die Finger davon, denn der Mann da, der hat Konnexionen g'habt, ich sag' Ihnen, ein Oberst von der amerikanischen Delegation ist ihn besuchen kommen, und sie haben zusammen englisch g'redt, und überhaupt, Besuche hat er den ganzen Tag gehabt, Türken und Russen und Argentinische – und auch G'sindel –, wenn Sie meine Meinung wissen wollen, Herr Hofrat, der Mann war eine düstere Existenz ...«
»Ja«, sagte der Kommissar Kreibig und strich über sein weisses Haar, das seidig schimmerte, »ja, mein lieber Pospischil, das hab' ich mir schon gedacht, ich hab's von Anfang an g'sagt, die trostlose Affäre par excellence, hab' ich's nicht g'sagt?«
Und Hochroitzpointner nickte schweigend.
»Sie können gehen, Pospischil ... oder nein, warten Sie noch. Der Zucker, Hochroitzpointner, wäre ja erklärt, sehen Sie hier den Zeitungsausschnitt, nicht wahr, ›die Behandlung der Zuckerkrankheit‹ von einem französischen Professor namens Durand. Nun weiss man ja, dass Zuckerkranke, gerade weil ihnen der Zucker verboten ist, immer Hunger nach Zucker haben, und da hat halt der Kussmaul, wie er gesehen hat, dass er sterben wird, noch schnell das PackerlZucker in die Hand genommen – gewissermassen um seinen letzten Wunsch zu befriedigen. Nicht wahr? Was meinen Sie, Hochroitzpointner?«
Hochroitzpointner antwortete nichts, er hielt die Hände hängend in Schulterhöhe, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem bettelnden Hunde verlieh. Kommissar Kreibig hasste diese Allüren.
»Antworten Sie doch, wenn man Sie fragt!« schnauzte er. – Der Geheimpolizist Hochroitzpointner antwortete nicht, er fragte, und zwar fragte er den Kellner Pospischil:
»Mit wem hat der Herr immer Schach gespielt?«
»Am liebsten mit dem Swift, einem Engländer. Der Herr ... eh ... der Tote hat gesagt, der Swift ist der einzige, der gut spielt! Die andern sind nur Rotzbuben ...«
»Und der Herr Swift war heute nachmittag auch da?«
»Ja, er ist um halb vier gekommen. Dann hat der Kussmaul ... eh ... der Verstorbene geläutet und hat zwei Schalen Braun bestellt...«
»Zwei Schalen Braun? Aber wo ist die Milch?«
»Die ist uns ausgegangen, da hab' ich zwei kleine Schwarze gebracht... Und da hat der Herr Kussmaul mich ang'schrien, warum ich hab' Zucker gebracht, ich weiss doch, dass er keinen Zucker nehmen soll, und
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