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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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geheissen. Und Sie werden zugeben, dass der selige Kussmaul (fragt sich zwar noch, ob er selig ist) den Namen nicht besser hätte andeuten können. Der König, der Meister, dessen Name mit Zucker anfängt... Und jetzt sagen Sie mir, warum Sie ihn umgebracht haben. Ich hab' keinen Verhaftbefehl, ich bin sicher, Sie sind im Recht gewesen, die Sache wird niedergeschlagen. Aber gönnen Sie mir den Privattriumph!«
    »Warum ich das Schwein abgestochen hab'? Warum?« Das Gesicht über dem weissen Bart wurde feuerrot. »Weil mir der Falott statt Insulin Brunnenwasser geliefert hatund weil mir zwei schwere Fälle fast an Sepsis zugrunde gegangen wären.«
    »Ja so«, sagte der Kommissar Kreibig, »Brunnenwasser statt Insulin...« und er empfahl sich.
    Denn Insulin ist ja das einzige, halbwegs sicher wirkende Mittel bei schweren Fällen von Zuckerkrankheit.
    Vor dem Schild des Arztes blieb Kreibig noch einen Augenblick stehen, las murmelnd für sich. Es stand da:
»Prof. Dr. Regis Zuckertort,
Spezialist für Stoffwechselkrankheiten.«
    »Auch noch ›Regis‹, Genitiv von Rex, und im Gymnasium hab' ich gelernt, dass Rex König heisst. Wirklich des Guten zuviel.«
    Kommissar Kreibig zog kopfschüttelnd seine schadhaften Glacéhandschuhe an, trat auf die Strasse und spannte seinen Regenschirm auf, weil es ganz sanft regnete. Er verschwand im Strassengetümmel, während ihm aus einem Fenster im ersten Stock ein weissbärtiger Herr nachsah, der vielleicht zum erstenmal in seiner langen medizinischen Laufbahn es für nötig fand, über ein psychologisches Problem nachzugrübeln.

Die Hexe von Endor
1.
    Am 31. März 1925 zog Adrian Despine, zweiter Kassier an der Banque Fédérale in Genf, in ein möbliertes Zimmer im dritten Stock des Hauses Nr. 23 der Rue du Marché. Amélie Nisiow, die Zimmervermieterin, hatte ihm drei Tage vorher erzählt, sie sei Witwe und lebe von ihren Renten. Ihr Mann habe sie vor zehn Jahren verlassen und sei verschollen, ihr achtzehnjähriger Sohn studiere in Paris an den Arts et Métiers und wollte sich zum Kunsttöpfer ausbilden. Despine war an jenem Tag ein sonderbarer Geruch aufgefallen, der die ganze Wohnung erfüllt hatte. Der Geruch war nicht unangenehm: Kampfer und frisches Nussöl liessen sich deutlich erkennen, dazu der ein wenig giftige Duft einer blühenden Pflanze. Despine hielt den Ausspruch der Wirtin: »Ich leide an Beklemmungen« für eine Erklärung.
    Am Abend des 31. März war Despine bis um elf Uhr nachts mit dem Einordnen seiner Sachen beschäftigt. Sein Zimmer ging auf einen kleinen Hof. Vor dem Fenster lief eine Holzveranda von der Treppe zur Eingangstür der Wohnung. Nach und nach gingen die Abendgeräusche zur Ruhe. An der gegenüberliegenden Hauswand wehte Wäsche im Mondlicht. Um 11 Uhr 15, Despine lag im Bett und starrte auf das schwere Rechteck des Fensters, läutete die Flurglocke unangenehm hell. Und doch hatte Despine keine Schritte auf der Holzveranda gehört. Die schwammigen Schritte der Wirtin liessen den Fussboden erzittern, leises Flüstern raschelte, dann waren die zurückkehrenden Schritte schleichend, aber es war auch diesmal der Tritt nur eines Menschen; es schnappte gedämpft. Despine schlief ein. Später gab er bei einem Verhör an, er sei einmal in derNacht erwacht: Ganz deutlich hätte er von St. Pierre die Melodie des »Allons danser sous les ormeaux« gehört, darauf die zwei dunklen Stundenschläge.
    In der Wohnung summte ein Lied auf. Das Summen kam näher, dröhnte laut, so laut, dass er meinte, das Holz der Türfüllung mitklingen zu hören; es war eine Melodie, leicht zu behalten: zwei Töne tief, drei eine Quart höher, wie das Hornzeichen einer Feuerwehr; dann drei Töne eine Oktave höher als die ersten. Despine lauschte; Erinnerungen an den Gesangsunterricht in der Schule halfen ihm; er zählte mechanisch: zweimal die Einheit, rechnete er, dreimal die Vierheit, zweimal die Achtheit; zwei und zwölf und sechzehn ist dreissig. Die Rechnung stimmte, das Summen hörte auf. Dreissig, dachte Despine. Drei Nullen hüpften vorüber. Dreissigtausend, dreissigtausend...
    Es war nicht ein Erwachen aus dem Schlaf. Das erste war, dass die Haut des Körpers wieder fühlte: warmes Wasser; die Hand strich an der Blechkante, der gewölbten Blechkante einer Badewanne entlang. Dann hörten die Ohren wieder eine seltsam hallende Stimme: »Der ›Bund‹, der ›Bund‹, verlangen Sie die letzte Ausgabe des ›Bund‹!« Endlich sahen die Augen wieder. Sie waren schon

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