Erzählungen
Sonnenaufgang?«
»Unsinn! Der Käfer. Er ist von glänzend goldener Farbe – etwa so groß wie eine Walnuß – und hat an dem einen Ende des Rückens zwei gagatschwarze Flecken und an dem anderen einen einzelnen, etwas längeren. Die Fühlhörner sind …«
»Hat kein Horn, Massa Will, hab es schon oft gesagt«, fiel ihm hier Jupiter in das Wort, »der Käfer ist Goldkäfer, alles, alles Gold, inwendig und alles, Flügel auch Gold, hab noch nie so schweren Käfer getragen in mein Leben.«
»Nun, wie du willst, Jupiter«, erwiderte Legrand, wie mir schien in ernsterem Tone, als die Sache erforderte, »aber das ist doch kein Grund, um die Hühner anbrennen zu lassen? Die Farbe« – hier wandte er sich wieder an mich – »ist allerdings dazu angetan, um Jupiter auf solche Gedanken zu bringen. Man hat gewiß nie einen prächtigeren Metallglanz als den seiner Flügel gesehen; doch ich vergesse, daß Sie darüber erst morgen zu urteilen vermögen. Einstweilen kann ich Ihnen nur eine Vorstellung von seiner Gestalt geben.« Mit diesen Worten setzte er sich an einen kleinen Tisch, auf dem ich Tinte und Feder, jedoch kein Papier erblickte. Er suchte in einer Schublade herum, fand jedoch auch dort keins.
»Das schadet nichts!« meinte er endlich. »Dies genügt auch.« Dabei zog er einen Fetzen aus seiner Westentasche, den ich für schmutziges Pro-Patria-Papier hielt, und zeichnete mit der Feder flüchtig etwas darauf hin. Während er dies tat, blieb ich noch immer in meinem Armstuhl beim Feuer sitzen, denn mich fröstelte noch. Als die Zeichnung fertig war, reichte er sie mir, ohne von seinem Stuhl aufzustehen, herüber. Ich nahm sie entgegen und hörte zu gleicher Zeit ein Knurren an der Tür, dem bald ein heftiges Kratzen folgte. Jupiter öffnete, und ein großer Neufundländer, Legrands Eigentum, stürzte herein, sprang an mir empor und überhäufte mich mit Liebkosungen.
Ich hatte mich bei meinen früheren Besuchen sehr viel mit dem Tier beschäftigt, und es schien mich nun voller Freuden wiederzuerkennen. Als sich seine frohen Sprünge etwas mäßigten, betrachtete ich das Papier und muß gestehen, daß ich aus dem, was mein Freund da gezeichnet hatte, nicht recht klug zu werden vermochte.
»Allerdings«, sagte ich nach ein paar Minuten, »das muß ein sonderbarer Käfer sein. Ich habe wahrhaftig nie etwas Ähnliches gesehen – vielleicht Schädel oder Totenköpfe ausgenommen, denn denen sieht meiner Ansicht nach Ihr Käfer ähnlicher als sonst einem Ding auf Gottes Welt.«
»Ein Totenkopf«, wiederholte Legrand. »O ja – allerdings – auf dem Papier gleicht er einem solchen ein klein wenig. Die zwei oberen schwarzen Punkte könnten wohl die Augen sein und der längere unten der Mund – das Ganze ist ja auch oval.«
»Vielleicht ja«, sagte ich, »doch ich fürchte, Legrand, Sie sind kein großer Künstler. Wenn ich mir eine Vorstellung von dem Aussehen des Käfers machen soll, muß ich wohl warten, bis ich ihn selbst sehe.«
»Das weiß ich nicht!« entgegnete er ein wenig pikiert, »ich zeichne doch eigentlich erträglich, wenigstens sollte ich es tun, denn ich habe gute Lehrer gehabt und schmeichle mir, kein direkter Dummkopf zu sein.«
»Aber lieber Kerl, dann wollen Sie wohl scherzen«, antwortete ich ihm. »Das ist ein recht passabler, ja sogar ein ausgezeichneter Schädel, wenigstens nach den Anforderungen, die das große Publikum an dergleichen anatomische Abbildungen stellt – und Ihr Käfer muß der sonderbarste Käfer von der Welt sein, wenn er ihm ähnlich sieht. Wir können ja ein recht schönes, aufregendes Stück Aberglauben auf ihm aufbauen. Nennen Sie den Käfer doch scarabaeus caput hominis oder so ähnlich – die Naturgeschichte ist ja reich an solchen Titeln. Doch wo sind die Fühlhörner, von denen Sie eben sprachen?«
»Die Fühlhörner«, rief Legrand mit einer Wärme, die ich mir nicht zu erklären wußte, »die Fühlhörner müssen Sie doch gesehen haben.
Ich habe sie so deutlich hingezeichnet, wie sie an dem Tier selbst zu sehen sind, und ich glaube, das genügt.«
»Nun«, sagte ich, »vielleicht haben Sie diese hingezeichnet, doch sehe ich sie nicht«, und reichte ihm das Papier ohne weitere Bemerkung zurück, da ich ihn nicht in üble Laune bringen wollte. Doch war ich über die Wendung der Sache sehr verwundert; die Aufregung meines Freundes war mir absolut unerklärlich, und was die Zeichnung anbetraf, so waren keine Fühlhörner auf ihr zu sehen, doch glich sie bis
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