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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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sich mir Gelegenheit bot, energischere Maßregeln anzuwenden.
    Mittlerweile versuchte ich, jedoch vergebens, den Zweck dieses Ausfluges aus ihm herauszulocken. Nachdem es ihm einmal gelungen war, mich zum Mitgehen zu bewegen, schien er nicht geneigt, über irgendeinen unwichtigeren Gegenstand zu reden und antwortete auf alle meine Fragen nur mit den Worten: »Werden schon sehen.«
    Am oberen Ende der Insel setzten wir in einem Kahn über die Bucht, erkletterten das hohe Ufer des Festlandes und schritten in nordwestlicher Richtung durch eine ungemein wilde und öde Gegend weiter, in der auch nicht eine einzige menschliche Fußspur zu entdecken war. Legrand führte uns sicher und blieb nur dann und wann einen Augenblick stehen, um nach Wegzeichen zu spähen, die er offenbar selbst bei einem seiner früheren Ausflüge gemacht hatte.
    Wir waren ungefähr zwei Stunden geschritten, und die Sonne neigte sich schon dem Untergang zu, als wir in eine Gegend gelangten, wie ich sie trauriger und trüber noch nie gesehen hatte. Es war eine Art Tafelland nahe dem Gipfel eines anscheinend unzugänglichen Berges, der vom Fuß bis zur Spitze bewaldet und mit riesigen Felsblöcken dicht besät war, die lose umherzuliegen schienen und manchmal nur deshalb nicht in die Tiefe hinabrollten, weil sie zufälligerweise gegen einen Baum lehnten. Wilde Schluchten, die den Berg nach allen Seiten hin durchfurchten, erhöhten noch die starre Feierlichkeit der Landschaft.
    Die natürliche Plattform, die wir mit vieler Mühe erklommen, war so dicht mit Brombeergebüsch bewachsen, daß wir uns nur mit Hilfe der Sense einen Weg hindurchbahnen konnten. Jupiter ging voran und ebnete uns nach Anweisung seines Herrn den Pfad zu einem ungeheuer hohen Tulpenbaum, der mit acht oder zehn Eichen auf einer ebenen Fläche stand und sie alle sowie alle anderen Bäume, die ich je in meinem Leben gesehen, an Schönheit seines Laubwerks, Majestät der Form und Ausdehnung seiner Zweige bei weitem übertraf.
    Als wir zu diesem Baum gekommen waren, wandte sich Legrand an Jupiter und fragte, ob er sich hinaufzuklimmen getraue? Den alten Mann schien diese Frage etwas zu befremden, denn es verstrichen einige Augenblicke, ehe er antwortete. Endlich näherte er sich dem ungeheuren Stamm, ging langsam um ihn herum und prüfte ihn aufs eingehendste. Als er damit fertig war, sagte er bloß:
    »Ja, Massa, Jup klettern auf jeden Baum, den er sehen in sein Leben.«
    »Dann hinauf mit dir, so schnell wie möglich; es wird sowieso bald zu dunkel sein für unsere Angelegenheit.«
    »Wie weit ich müssen hinauf?« fragte Jup.
    »Klettere zuerst den Hauptstamm hinauf, dann sage ich dir, welche Richtung du einschlagen sollst und hier – warte – nimm den Käfer mit!«
    »Den Käfer, Massa Will? – Den Goldkäfer?« rief der Neger und wich entsetzt zurück. »Warum müssen der Käfer auf den Baum? Will sein verdammt, wenn ich das tun!«
    »Wenn du zu bange bist, Jup, du großer, starker Neger, einen harmlosen, toten kleinen Käfer in die Hand zu nehmen, dann kannst du ihn ja an der Schnur halten. Wenn du ihn aber auch dann nicht mitnehmen willst, bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mit dieser Schaufel den Schädel einzuschlagen.«
    »Was denn zornig, Massa?« sagte nun Jupiter, offenbar beschämt und willens, zu gehorchen. »Massa immer müssen zanken mit alten Neger. Jup haben gemacht Spaß. Jup nicht fürchten Käfer. Jup nicht scheren um Käfer.« Und vorsichtig nahm er das äußerste Ende der Schnur in die Hand, hielt das Insekt, soweit es nur die Umstände gestatteten, von seinem Körper entfernt und machte sich bereit, den Baum zu erklettern.
    Der Tulpenbaum, Liriodendron tulipiferum, der schönste aller amerikanischen Bäume, hat, wenn er noch jung ist, einen eigentümlich glatten Stamm, von dem sich die Seitenäste erst in ziemlicher Höhe abzweigen. Wird er älter, so wird seine Rinde uneben und rauh, und viele kleine Ästchen schießen aus dem Stamm hervor. Seine Ersteigung bietet dann eigentlich eine mehr scheinbare als wirkliche Schwierigkeit. Jupiter klammerte sich mit seinen Armen und Knien möglichst fest an den ungeheuren Zylinder, ergriff mit den Händen die Vorsprünge, ließ dann und wann seine nackten Zehen auf einigen anderen ausruhen, zog sich so bis zur ersten Gabel hinauf und schien nun seine Aufgabe in der Hauptsache für vollendet zu halten. Das Gefährlichste hatte er in der Tat auch überstanden, obschon der Kletterer einige sechzig oder siebzig

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