Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Unsterblichkeit für den Menschen; dass die Menschen in Moskau diesen rauen, anspruchslosen harten Zweig mit den Händen berühren, seine blendend grünen Nadeln, seine Wiedergeburt, seine Auferweckung ansehen, seinen Duft einatmen werden – nicht als Erinnerung an Vergangenes, sondern als lebendiges Leben.
1966
Der Handschuh
Der Handschuh
Für Irina Pawlowna Sirotinskaja
Irgendwo im Eis liegen meine Ritterhandschuhe, die meine Finger ganze sechsunddreißig Jahre umschlossen haben, enger als Glacéhandschuhe und feiner als das Wildleder von Ilse Koch .
Diese Handschuhe leben im Museumseis – ein Zeugnis, ein Dokument, ein Exponat des phantastischen Realismus meiner damaligen Wirklichkeit, sie warten auf ihren Moment, wie ein Molch oder Quastenflosser, um die Latimeria unter den Quastenflossern zu werden.
Ich vertraue der protokollierenden Aufzeichnung, bin selbst von Beruf Faktograph, Faktologe, aber was tun, wenn es diese Aufzeichnungen nicht gibt. Es gibt keine Akten, keine Archive, keine Krankengeschichten …
Die Dokumente unserer Vergangenheit sind vernichtet, die Wachtürme abgesägt, die Baracken dem Erdboden gleichgemacht, der rostige Stacheldraht aufgewickelt und an einen anderen Ort gebracht. Auf den Ruinen der Serpantinka blüht das Waldweidenröschen – die Feuerblume, Blume des Vergessens, der Feind der Archive und des menschlichen Gedächtnisses.
Hat es uns gegeben?
Ich antworte: »ja« – mit der ganzen Beredsamkeit des Protokolls, mit der Haftung und Strenge des Dokuments.
Das ist eine Erzählung über meinen Kolyma-Handschuh, ein Exponat vielleicht für ein Museum des Gesundheitswesens oder der Landeskunde?
Wo bist du jetzt, meine Kampfansage an die Zeit, mein Ritterhandschuh, in den Schnee, dem Eis der Kolyma ins Gesicht geworfen im Jahr 1943?
Ich bin ein
dochodjaga
, ein Berufsinvalide beim Krankenhaus, von den Ärzten aus den Klauen des Todes gerettet, sogar gerissen. Aber ich sehe keinen Segen in meiner Unsterblichkeit, weder für mich selbst noch für den Staat. Unsere Begriffe haben die Maßstäbe, die Grenzen von Gut und Böse verschoben und überschritten. Die Rettung kann ein Segen sein oder auch nicht: Diese Frage habe ich für mich bis heute nicht entschieden.
Kann man denn eine Feder halten in solch einem Handschuh, der in Formalin oder Spiritus im Museum liegen sollte und stattdessen im anonymen Eis liegt?
Ein Handschuh, der in sechsunddreißig Jahren Teil meines Körpers wurde, Teil und Symbol meiner Seele.
Alles endete glimpflich, und die Haut wuchs wieder nach. Um das Skelett wuchsen Muskeln, ein wenig gelitten hatten die Knochen, die krumm waren von einer Osteomyelitis nach den Erfrierungen. Sogar die Seele wuchs augenscheinlich nach um diese beschädigten Knochen. Selbst der Fingerabdruck ist ein und derselbe an jenem toten Handschuh und dem heutigen, lebendigen, der jetzt den Bleistift hält. Das ist ein wahres Wunder der Kriminalistik. Diese Zwillingshandschuhe. Irgendwann schreibe ich einen Krimi zu einem solchen Handschuh-Sujet und leiste meinen Beitrag zu diesem literarischen Genre. Aber jetzt ist mir nicht nach dem Genre des Krimis. Meine Handschuhe, das sind zwei Menschen, zwei Doppelgänger mit ein und demselben daktyloskopischen Muster – ein Wunder der Wissenschaft. Ein würdiger Gegenstand des Nachdenkens für die Kriminalisten der ganzen Welt, für Philosophen, Historiker und Ärzte.
Nicht nur ich kenne das Geheimnis meiner Hände. Der Feldscher Lesnjak und die Ärztin Sawojewa haben diesen Handschuh in der Hand gehalten.
Haben denn die nachgewachsene Haut, die neue Haut und die Muskeln um die Knochen das Recht zu schreiben? Wenn schon schreiben, dann dieselben Worte, die jener Handschuh von der Kolyma hätte aufschreiben können, der Arbeiter-Handschuh, die schwielige Hand, blutig gerieben vom Brecheisen, mit um den Schaufelgriff gekrümmten Fingern. Jener Handschuh hätte diese Erzählung gar nicht mehr aufgeschrieben. Jene Finger lassen sich nicht mehr geradebiegen, um die Feder zu nehmen und über sich zu schreiben.
War das Feuer meiner neuen Haut, die rosa Flamme am zehnarmigen Leuchter meiner erfrorenen Hände etwa kein Wunder?
Wird nicht in jenem Handschuh, der der Krankengeschichte beigelegt ist, die Geschichte nicht bloß meines Körpers, meines Schicksals und meiner Seele geschrieben, sondern die Geschichte eines Staates, einer Zeit, der Welt?
In jenem Handschuh konnte man Geschichte schreiben.
Jetzt betrachte ich – obwohl das
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