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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sah ich am 23. Juni 1943 vor dem Revolutionstribunal während meiner Verhandlung. Er galt als Dokument. Auf dem Zettel stand wortwörtlich – ich kenne den Text auswendig: »Bescheinigung: Der Häftling Schalamow hat sich nicht an das Ambulatorium Nr. 1 der Spezialzone Dshelgala gewandt. Leiter der Sanitätsstelle Arzt Mochnatsch.«
    Diese Bescheinigung wurde während meiner Verhandlung laut verlesen, zum höheren Ruhm des Bevollmächtigten Fjodorow, der mein Verfahren leitete. Alles war Lüge in meinem Prozess, die Anklage wie die Zeugen wie die Expertise. Echt war nur die menschliche Gemeinheit.
    Ich kam nicht einmal dazu, mich zu freuen in jenem Juni 1943, dass die zehn Jahre Haft ein Geschenk zu meinem Geburtstag waren. »Ein Geschenk«, sagten mir alle Kenner von dergleichen Situationen. »Du wurdest ja nicht erschossen. Du hast die Strafe nicht in Blei bekommen – ein Gewicht von sieben Gramm.«
    All das erschien als Bagatelle vor der Realität der Nadel, die ich nicht nach Schneider-Art halten konnte.
    Aber auch das ist eine Bagatelle.

    Irgendwo – ob oben oder unten, habe ich mein Leben lang nicht erfahren – gingen die Schraubenräder, die den Dampfer des Schicksals bewegten, ein Pendel, das von Leben zu Tod schwang – im hohen Stil gesprochen.
    Irgendwo wurden Rundschreiben verfasst, klingelten die internen Telefone. Irgendwo war irgendjemand für irgendetwas verantwortlich. Und als winziges Resultat des hochbürokratischen medizinischen Widerstands gegen den Tod wurden vor dem strafenden Schwert des Staates die Instruktionen, Befehle und Formschreiben der obersten Leitung geboren. Wellen eines Papiermeers, die an die Ufer eines keineswegs papierenen Schicksals schlugen. Aufgrund ihrer wahren Krankheit hatten die
dochodjagi
und Dystrophiker der Kolyma kein Recht auf medizinische Hilfe, auf das Krankenhaus. Selbst in der Morgue verfälschte der Pathologe standhaft die Wahrheit, er stellte eine andere Diagnose und log sogar nach dem Tod. Die wahre Diagnose der alimentären Dystrophie tauchte in den medizinischen Dokumenten des Lagers erst nach der Leningrader Blockade auf, während des Krieges wurde es erlaubt, den Hunger Hunger zu nennen, doch bis dahin legte man die
dochodjagi
mit der Diagnose Polyavitaminose, grippöse Pneumonie zum Sterben, in seltenen Fällen RFI – extreme physische Auszehrung.
    Selbst für den Skorbut gab es Kontrollziffern, die die Ärzte bezüglich der Liegetage und der Gruppen »W« und »B« besser nicht zu überschreiten hatten. Hohe Liegetage, ein Anschnauzer von der obersten Leitung, und der Arzt war nicht mehr Arzt.
    Dysenterie – damit durfte man Häftlinge hospitalisieren. Der Strom der Dysenterie-Kranken fegte alle offiziellen Barrieren hinweg. Ein
dochodjaga
hat ein feines Gespür für Schwachstellen – wo, durch welches Tor wird man eingelassen zur Erholung, auf eine Atempause, nur für eine Stunde, nur für einen Tag. Der Körper, der Magen des Häftlings ist kein Barometer. Der Magen warnt nicht vor. Doch der Trieb zur Selbsterhaltung lässt den
dochodjaga
auf die Tür zum Ambulatorium schauen, die vielleicht in den Tod führt und vielleicht ins Leben.
    »Tausendfach krank« ist ein Ausdruck, über den alle Kranken und die medizinische Leitung lachen – er ist tief, zutreffend, genau und wichtig.
    Der
dochodjaga
zwingt dem Schicksal wenigstens einen Tag der Erholung ab, um auf seine irdischen Wege zurückzukehren, die den himmlischen Wegen sehr ähnlich sind.
    Das Wichtigste ist die Kontrollziffer, der Plan. In diesen Plan zu passen ist eine schwere Aufgabe – wie mächtig der Strom der Durchfallkranken auch sei, die Tür zum Krankenhaus ist schmal.
    Das Vitaminkombinat, in dem ich wohnte, hatte nur zwei Plätze für Dysenterie im Kreiskrankenhaus, zwei teure Einweisungsscheine, und selbst diese unter Kämpfen abgerungen für die »
vitaminki
« , denn die Dysenterie des Gold- oder Zinnbergwerks oder die Dysenterie des Straßenbaus wiegen schwerer als die Durchfallkranken des Vitaminkombinats.
    Vitaminkombinat hieß einfach ein Schuppen, in dem man in Kesseln Krummholzextrakt kochte – eine giftige, elende, sehr bittere Mischung von brauner Farbe, mittels vieltägigen Siedens zu einem dicken Gemisch eingekocht. Dieses Gemisch wurde aus Krummholznadeln gekocht, die die Häftlinge an der ganzen Kolyma, die
dochodjagi
– in der Goldmine Entkräftete –, »rupften«. Wer sich aus dem Goldtagebau herausgearbeitet hatte, wurde zum Sterben gezwungen durch die

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