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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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daktyloskopische Muster dasselbe ist – im Licht eine feine rosa Haut und nicht schmutzige blutige Handflächen. Ich bin jetzt weiter vom Tod entfernt als 1943 oder 1938, als meine Finger die Finger eines Toten waren. Wie eine Schlange habe ich im Schnee meine alte Haut abgeworfen. Aber noch heute reagiert die neue Hand auf kaltes Wasser. Die Schäden der Erfrierungen sind unumkehrbar, ewig. Und doch ist meine Hand nicht die Hand des
dochodjaga
von der Kolyma. Jener Balg ist abgerissen von meinem Fleisch, abgelöst von den Muskeln wie ein Handschuh und der Krankengeschichte beigelegt.
    Das daktyloskopische Muster beider Handschuhe ist dasselbe: Das ist das Muster meiner Gene, der Gene eines Opfers und der Gene des Widerstands. Genauso wie meine Blutgruppe. Die Erythrozyten eines Opfers und nicht eines Eroberers. Der erste Handschuh wurde im Museum von Magadan zurückgelassen, im Museum der Sanitätsverwaltung, und der zweite wurde aufs Große Land gebracht, in die Welt der Menschen, um alles Nichtmenschliche jenseits des Ozeans, hinter dem Jablonowy-Gebirge zurückzulassen.
    Gefangenen Flüchtigen hackte man an der Kolyma die Hände ab, um sich nicht mit dem Körper, dem Leichnam abzuschleppen. Die abgehackten Hände kann man in der Aktentasche transportieren, in der Feldtasche, denn der Pass eines Menschen an der Kolyma – ob eines Freien oder eines flüchtigen Häftlings – ist das Muster seiner Finger. Alles für die Identifizierung Notwendige kann man in der Aktentasche transportieren, in der Feldtasche, und nicht auf dem Lastwagen, nicht auf einem »Lieferwagen« oder »Willys«.
    Und wo ist mein Handschuh? Wo wird er aufbewahrt? Meine Hand ist ja nicht abgehackt.
    Im Spätherbst 1943, bald nach der Verurteilung zu weiteren zehn Jahren Haft, ohne Kraft noch Hoffnung zu leben – die Muskeln und Sehnen auf den Knochen waren zu wenig, um darin noch ein längst vergessenes, abgeworfenes, vom Menschen nicht gebrauchtes Gefühl wie Hoffnung zu bewahren –, geriet ich, der
dochodjaga
, den man aus allen Ambulatorien der Kolyma verjagt hatte, in die glückliche Welle des offiziell gebilligten Kampfs gegen die Dysenterie. Ich, ein alter Durchfallpatient, hatte jetzt gewichtige Argumente für eine Hospitalisierung. Ich war stolz, dass ich meinen Hintern jedem Arzt – und vor allem jedem Nichtarzt – hinhalten konnte, und der Hintern spuckte ein Stückchen rettenden Schleims aus, zeigte der Welt den grünlichgrauen Smaragd mit den blutigen Adern, den Dysenterie-Edelstein.
    Das war mein Passierschein ins Paradies, das ich niemals gesehen hatte in den achtunddreißig Jahren meines Lebens.
    Ich war fürs Krankenhaus vorgemerkt, durch irgendein Loch in der Lochkarte aufgenommen in die endlosen Listen, aufgenommen und mitgenommen in den rettenden, den Rettungsring. Übrigens dachte ich damals am allerwenigsten an Rettung, und was das Krankenhaus ist, wusste ich gar nicht, ich unterwarf mich nur dem ewigen Gesetz der Häftlingsroutine: Wecken – Ausrücken – Frühstück – Mittagessen – Arbeit – Abendessen, Schlafen oder Vorladung zum Bevollmächtigten.
    Ich war viele Male aufgelebt und wieder auf Grund gelaufen, war viele Jahre, nicht Tage und nicht Monate, sondern Jahre, viele Kolyma-Jahre vom Krankenhaus ins Bergwerk gewandert. Man kurierte mich, bis ich selbst anfing zu kurieren, und dasselbe automatische Rad des Lebens warf mich aus aufs Große Land.

    Ich, der
dochodjaga
, wartete auf die Etappe, aber nicht ins Gold, wo man mir gerade zehn weitere Jahre Haft gegeben hatte. Für das Gold war ich zu ausgezehrt. Mein Schicksal wurden die »Vitamin«-Außenstellen.
    Ich wartete auf die Etappe im Kommandanten-Lagerpunkt von Jagodnyj – die Regeln des Durchgangslagers sind bekannt: alle
dochodjagi
werden mit Hunden, mit Begleitposten zur Arbeit getrieben. Wenn es Begleitposten gibt – dann gibt es auch Arbeiter. All ihre Arbeit wird nirgendwo aufgezeichnet, sie werden gewaltsam hinausgetrieben, und sei es bis zum Mittagessen – stoß mit dem Brecheisen Löcher in den gefrorenen Boden oder schlepp ein Stämmchen für Brennholz ins Lager, zersäg wenigstens Baumstümpfe und stapele sie, zehn Kilometer von der Siedlung entfernt.
    Verweigerung? Karzer, ein Dreihunderter Brot, ein Napf Wasser. Ein Protokoll. Und 1938 gab es für drei Verweigerungen nacheinander – die Erschießung an der Serpantinka, dem Untersuchungsgefängnis des Nordens. Mit dieser Praxis gut bekannt, dachte ich gar nicht daran, mich zu drücken

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