Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
oder zu verweigern, wohin man uns auch führen würde.
Auf einem der Fußmärsche brachte man uns in die Schneiderei. Hinter dem Zaun stand eine Baracke, dort wurden Handschuhe genäht aus alten Hosen, und Schuhsohlen, auch sie aus einem Stück wattiertem Stoff.
Neue Zelttuchhandschuhe mit Lederbesatz halten beim Bohren mit dem Brecheisen – und ich habe nicht wenig per Hand gebohrt –, sie halten ungefähr eine halbe Stunde. Die wattierten etwa fünf Minuten. Der Unterschied ist nicht so groß, als dass man auf die Lieferung von Spezialkleidung vom Großen Land hätte rechnen können.
In der Schneiderei von Jagodnyj nähten etwa sechzig Mann Handschuhe. Dort gab es Öfen und auch einen Zaun gegen den Wind – ich wollte sehr gern Arbeit in dieser Schneiderei bekommen. Leider konnten die vom Schaufelstiel und der Hacke gekrümmten Finger eines Goldgrubenhauers die Nadel nicht in der richtigen Stellung halten, und selbst zum Reparieren von Handschuhen nahm man stärkere Leute als mich. Der Meister sah zu, wie ich mit der Nadel umging, und machte eine ablehnende Geste mit der Hand. Ich hatte die Prüfung zum Schneider nicht bestanden und machte mich bereit für den weiten Weg . Übrigens, weit oder nah – das war mir vollkommen gleich. Die neue Haftzeit, die ich bekommen hatte, schreckte mich nicht im mindesten. Das Leben für länger als einen Tag zu planen hatte keinerlei Sinn. Schon der Begriff »Sinn« selbst ist kaum zu rechtfertigen in unserer phantastischen Welt. Diese Lösung – das Planen für einen Tag – war nicht vom Gehirn gefunden, sondern einem animalischen Häftlingsgespür, dem Gespür der Muskeln – gefunden war ein Axiom, das keinem Zweifel unterlag.
Anscheinend hatte ich die weitesten Wege, die dunkelsten, entlegensten Straßen hinter mich gebracht, die tiefsten Winkel des Gehirns beleuchtet, das Äußerste an Erniedrigung, hatte Schläge, Ohrfeigen, Fausthiebe und tägliches Prügeln erlebt. All das hatte ich sehr gründlich erlebt. Alles Wichtigste hatte mir der Körper suggeriert.
Schon beim ersten Schlag des Begleitpostens, des Brigadiers, des Arbeitsanweisers, eines Ganoven, irgendeines Chefs fiel ich um, und das war keine Simulation. Keineswegs! Die Kolyma hatte meinen Vestibularapparat mehrfach auf die Probe gestellt, hatte nicht nur mein »Menière-Syndrom« auf die Probe gestellt, sondern auch mein Leichtgewicht im absoluten, d.h. im Häftlingssinn.
Wie ein Kosmonaut für den Flug in den Himmel, hatte ich eine Prüfung durchlaufen auf den Eiszentrifugen der Kolyma.
Mit trübem Bewusstsein nahm ich wahr: Man hat mich geschlagen, umgeworfen, man tritt mich, die Lippen sind zerschlagen, das Blut läuft aus den Skorbut-Zähnen. Ich muss mich zusammenkauern, mich hinlegen, an die Erde drücken, an die feuchte Mutter Erde . Aber die Erde war Schnee und Eis und im Sommer Stein, und nicht feuchte Erde. Viele Male wurde ich geschlagen. Für alles. Dafür, dass ich Trotzkist war, dass ich »Iwan Iwanytsch« war. Alle Sünden der Welt verantwortete ich mit meinen Flanken, hielt her für die offiziell erlaubte Rache. Und doch kam es irgendwie nicht zum letzten Schlag, zum letzten Schmerz.
Ich dachte damals nicht an das Krankenhaus. »Krank« und »Krankenhaus« – das sind unterschiedliche Begriffe, besonders an der Kolyma.
Zu überraschend war der Schlag durch den Arzt Mochnatsch gewesen, den Leiter der Sanitätsstelle in der Spezialzone von Dshelgala, wo ich erst vor wenigen Monaten vor Gericht gestanden hatte. Jeden Tag war ich ins Ambulatorium gegangen, in dem Doktor Wladimir Ossipowitsch Mochnatsch arbeitete, in die Sprechstunde, und hatte versucht, auch nur einen Tag Befreiung von der Arbeit zu bekommen.
Als ich im Mai 1943 verhaftet wurde, verlangte ich sowohl eine medizinische Begutachtung als auch eine Bescheinigung über meine Behandlung im Ambulatorium.
Der Untersuchungsführer notierte meine Bitte, und in derselben Nacht ging die Tür meines Karzers auf, in dem ich ohne Licht, bei einem Becher Wasser und einem Dreihunderter-Brot eine ganze Woche verbrachte – ich lag auf dem festgestampften Boden, denn im Karzer gab es weder Pritsche noch Möbel –, und auf der Schwelle erschien ein Mann im weißen Kittel. Das war der Arzt Mochnatsch. Ohne näherzukommen schaute er mich, den aus dem Karzer Geführten, Gestoßenen an, leuchtete mir mit der Laterne ins Gesicht und setzte sich an den Tisch, er fackelte nicht lange und schrieb etwas auf einen Zettel. Und ging. Diesen Zettel
Weitere Kostenlose Bücher