Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
gehabt, sich zuallererst um das Boot zu kümmern.
Ich aß zu Mittag, zu Abend, frühstückte und aß wieder zu Mittag, zu Abend – aß meine ganze Zweitagesration, und ich wurde schläfrig. Ich hatte mich aufgewärmt.
Ich stellte den Kessel mit Wasser aufs Feuer. Aufs gebändigte Feuer das gebändigte Wasser. Und bald begann der Kessel zu brodeln, zu kochen. Aber ich schlief schon …
1966
Die Auferweckung der Lärche
Wie sind abergläubisch. Wir verlangen ein Wunder. Wir erfinden Symbole, und in diesen Symbolen leben wir.
Ein Mann im Hohen Norden sucht ein Ventil für seine Empfindsamkeit – die nicht zerstört, nicht verdorben wurde durch Jahrzehnte Leben an der Kolyma. Der Mann schickt per Luftpost ein Päckchen: keine Bücher, keine Photos, keine Gedichte, sondern einen Lärchenzweig, einen toten Zweig der lebendigen Natur.
Dieses sonderbare Geschenk, der ausgetrocknete, von den Winden der Flugzeuge durchgepustete, im Postwaggon gedrückte und geknickte, hellbraune, harte, verknöcherte Zweig des nördlichen Baums wird ins Wasser gestellt.
Er wird in ein Konservenglas gestellt mit bösem gechlortem desinfiziertem Moskauer Leitungswasser, einem Wasser, das vielleicht selbst mit Freuden alles Lebendige austrocknet – Moskauer totes Leitungswasser.
Lärchen sind seriöser als blühende Sträucher. In diesem Zimmer gibt es viele Blüten, leuchtende Blüten. Hier stellt man Faulbeersträuße, Fliedersträuße in heißes Wasser, man spaltet die Zweige und taucht sie in kochendes Wasser.
Die Lärche steht im kalten, kaum angewärmten Wasser. Die Lärche hat näher an Tschornaja Retschka gelebt als all diese Sträucher, all diese Zweige – Faulbeere und Flieder.
Das begreift die Hausherrin. Auch die Lärche begreift das.
Unter dem Einfluss des leidenschaftlichen menschlichen Willens nimmt der Zweig alle Kräfte zusammen, physische und geistige, denn der Zweig kann sich nicht wiederbeleben allein durch physische Kräfte: die Moskauer Wärme, das gechlorte Wasser, das gleichgültige Konservenglas. Im Zweig sind andere, geheime Kräfte geweckt.
Es vergehen drei Tage und drei Nächte, und die Hausherrin wird wach von einem sonderbaren, unbestimmten Terpentingeruch, einem schwachen, feinen, neuen Geruch. Durch die harte verholzte Haut durchgebrochen und ans Licht ausgetrieben sind neue, junge, lebendige, hellgrüne frische Nadeln.
Die Lärche lebt, die Lärche ist unsterblich, dieses Wunder der Auferweckung musste geschehen, denn die Lärche wurde ins Glas gestellt am Jahrestag seines Todes an der Kolyma – für den Mann der Hausherrin, den Dichter .
Selbst diese Erinnerung an den Toten hat mit teil am Aufleben, an der Auferweckung der Lärche.
Dieser zarte Duft, dieses blendende Grün – sind wichtige Quellen des Lebens. Schwach, aber lebendig, auferweckt von einer geheimen geistigen Kraft, die in der Lärche verborgen und ans Licht gekommen ist.
Der Duft der Lärche war schwach, aber deutlich, und keine Kraft auf der Welt hätte diesen Duft übertäuben, hätte dieses grüne Licht und Leuchten ersticken können.
Wie viele Jahre hatte die Lärche – verkrüppelt von den Winden und Frösten, nach der Sonne sich drehend – jedes Frühjahr ihre jungen grünen Nadeln in den Himmel gestreckt!
Wie viele Jahre? Hundert. Zweihundert. Sechshundert. Ihre Reife erreicht die Dahurische Lärche mit dreihundert Jahren.
Dreihundert Jahre! Die Lärche, deren Zweig, deren Zweiglein auf dem Moskauer Tisch atmet, ist eine Altersgefährtin von Natalja Scheremetewa-Dolgorukowa und kann uns an ihr trauriges Schicksal erinnern: an die Wechselfälle des Lebens, an Treue und Festigkeit, an seelische Standhaftigkeit, an physische und moralische Qualen, die sich in nichts unterscheiden von den Qualen des Jahres siebenunddreißig mit der wütenden nördlichen Natur, die den Menschen hasst, mit der Todesgefahr in den Frühjahrshochwassern und Winterschneestürmen, mit den Denunziationen und der groben Willkür der Chefs, mit dem Tod, mit dem Vierteilen und Rädern des Mannes, des Bruders, des Sohnes, des Vaters, die einander denunziert, die einander verraten haben.
Ist denn das nicht das ewige russische Sujet?
Nach der Rhetorik des Moralisten Tolstoj und der besessenen Predigt Dostojewskijs hat es Kriege, Revolutionen, Hiroshima und die Konzentrationslager, Denunziationen und Erschießungen gegeben.
Die Lärche hat die Maßstäbe der Zeit verschoben, das menschliche Gedächtnis beschämt, an das Unvergessliche
Weitere Kostenlose Bücher