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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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erinnert.
    Die Lärche, die den Tod Natalja Dolgorukowas gesehen hat und Millionen Leichen gesehen hat, unsterbliche im Dauerfrostboden der Kolyma, die den Tod des russischen Dichters gesehen hat, diese Lärche lebt irgendwo im Norden, und sie sieht, und sie schreit, dass sich nichts geändert hat in Russland – nicht die Schicksale, nicht die menschliche Bosheit, nicht die Gleichgültigkeit. Natalja Scheremetewa hat alles erzählt, alles aufgeschrieben mit ihrer traurigen Kraft und Zuversicht. Die Lärche, deren Zweig auflebte auf dem Moskauer Tisch, war schon am Leben, als Scheremetewa ihren traurigen Weg nach Berjosowo fuhr, der dem Weg nach Magadan, über das Ochotskische Meer hinaus, so ähnelt.
    Die Lärche verströmte, ja, verströmte ihren Duft wie einen Saft. Der Duft ging über in Farbe, und zwischen ihnen war keine Grenze.
    Die Lärche atmete in der Moskauer Wohnung, um die Menschen an ihre menschliche Pflicht zu erinnern, damit die Menschen die Millionen Leichen nicht vergessen – jene Menschen, die an der Kolyma umkamen.
    Der schwache nachdrückliche Duft – das war die Stimme der Toten.
    Im Namen dieser Toten auch wagte es die Lärche, zu atmen, zu sprechen und zu leben.
    Für die Auferweckung braucht es Kraft und Zuversicht. Den Zweig ins Wasser zu stellen – das ist längst nicht alles. Auch ich habe einen Lärchenzweig in ein Glas mit Wasser gestellt: Der Zweig ist vertrocknet, ist leblos, spröde, zerbrechlich geworden – das Leben hat sich daraus verflüchtigt. Der Zweig hat sich ins Nichts verflüchtigt, ist verschwunden, ist nicht wieder auferstanden. In der Wohnung des Dichters aber ist die Lärche im Glas mit Wasser aufgelebt.
    Ja, es gibt die Fliederzweige, die Faulbeerzweige, es gibt herzergreifende Romanzen; die Lärche ist kein Gegenstand, kein Thema für Romanzen.
    Die Lärche ist ein sehr seriöser Baum. Sie – und nicht der Apfelbaum, nicht die Birke! – ist der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der Baum, der im Paradiesgarten steht bis zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.
    Die Lärche ist der Baum der Kolyma, der Baum der Konzentrationslager.
    An der Kolyma singen die Vögel nicht. Die Blüten an der Kolyma sind bunt, eilig, grob – sie duften nicht. Ein kurzer Sommer in der kalten, leblosen Luft – trockene Hitze und durchdringende Kälte nachts.
    An der Kolyma duftet nur die Bergheckenrose – rubinrote Blüten. Es duften weder das rosa, grob geformte Maiglöckchen noch die riesigen, faustgroßen Veilchen, noch der abgezehrte Wacholder, noch das immergrüne Krummholz.
    Und nur die Lärche erfüllt die Wälder mit ihrem unbestimmten Terpentingeruch. Anfangs scheint es, als wäre es der Geruch der Verwesung, Leichengeruch. Doch dann schaust du näher hin, atmest diesen Duft tiefer ein und begreifst, dass es der Duft des Lebens ist, der Duft der Auflehnung gegen den Norden, der Duft des Sieges.
    Außerdem – die Toten riechen nicht an der Kolyma, sie sind zu ausgemergelt, ausgezehrt, und sie bleiben auch im Dauerfrostboden erhalten.
    Nein, die Lärche ist ein Baum, der nicht taugt für Romanzen, von diesem Zweig wirst du nicht singen und keine Romanze schreiben. Hier geht es um Worte von anderer Tiefe, eine andere Schicht der menschlichen Gefühle.
    Der Mann schickt per Luftpost einen Zweig von der Kolyma: Nicht sich selbst will er in Erinnerung rufen. Die Erinnerung nicht an ihn, sondern die Erinnerung an jene Millionen Getötete und Gequälte, die in den Massengräbern liegen nördlich von Magadan.
    Den anderen helfen, sich daran zu erinnern und diese schwere Last von der eigenen Seele nehmen: so etwas zu sehen und den Mut aufzubringen, nicht zu erzählen, aber sich daran zu erinnern. Der Mann und seine Frau haben ein Mädchen angenommen – ein gefangenes Mädchen einer im Krankenhaus gestorbenen Mutter –, um wenigstens im eigenen, persönlichen Sinn eine Verpflichtung einzugehen, eine persönliche Pflicht zu erfüllen.
    Den Kameraden helfen – jenen, die am Leben blieben nach dem Konzentrationslager im Hohen Norden …
    Und diesen harten, geschmeidigen Zweig nach Moskau schicken.
    Als er den Zweig schickte, hat der Mann nicht begriffen, nicht gewusst, hätte er nicht gedacht, dass man den Zweig in Moskau wiederbeleben und dass er, auferweckt, nach der Kolyma zu duften und zu blühen beginnen wird in einer Moskauer Straße, dass die Lärche ihre Kraft, ihre Unsterblichkeit beweisen wird; die sechshundert Jahre Leben einer Lärche sind die praktische

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