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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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gehört. Ich kannte einen Menschen mit diesem Nachnamen. Sybalow – nicht Iwanow, nicht Petrow, nicht Smirnow. Das ist ein Name aus den Hauptstädten. Und plötzlich, vor Anspannung schwitzend, erinnerte ich mich. Nicht Moskau, nicht Leningrad, nicht Kiew waren es gewesen, wo der Mensch mit dem hauptstädtischen Namen in meiner Nähe war.
    1929, während meiner ersten Haftzeit im Nordural, in Beresniki, war ich bei der Arbeit in der Sodafabrik Beresniki einem Ökonomen, dem Chef der Planabteilung, dem Verbannten Sybalow begegnet, Pawel Pawlowitsch, glaube ich. Sybalow war Mitglied des ZK der Menschewiki , und man zeigte ihn anderen Verbannten aus der Ferne, von der Türschwelle des Kontors der Sodafabrik, in der Sybalow arbeitete. Bald, nach Beginn der aufsehenerregenden Prozesse, wurde Beresniki überschwemmt von einem Strom der verschiedensten Häftlinge – von Verbannten, Lagerhäftlingen, umgesiedelten Kolchosbauern –, und der Name Sybalow trat unter den neuen Helden etwas in den Schatten. Sybalow war nicht mehr die Sehenswürdigkeit von Beresniki.
    Die Sodafabrik selbst, das ehemalige Solvay , wurde Teil des Chemiekombinats von Beresniki, ging auf in einer der Giganten-Baustellen des ersten Fünfjahrplans, Beresnikchimstroj, die Hunderttausende Arbeiter, Ingenieure und Techniker aufnahm, einheimische und ausländische. Es gab in Beresniki eine Siedlung von Ausländern, einfachen Verbannten, Spezialumsiedlern und Lagerinsassen. Allein an Lagerinsassen brachen zu einer Schicht bis zu zehntausend Mann auf. Eine Baustelle mit unwahrscheinlicher Fluktuation, in der im Monat dreitausend Freie per Vertrag und Anwerbung aufgenommen wurden und viertausend ohne Abrechnung flohen. Diese Baustelle wartet noch auf ihre Beschreibung. Die Hoffnungen auf Paustowskij haben sich nicht erfüllt. Paustowskij schrieb und beendete dort »Kara-Bugas«, er versteckte sich vor der brodelnden, tobenden Menge im Hotel in Beresniki und streckte die Nase nicht auf die Straße hinaus.
    Der Ökonom Sybalow wechselte vom Dienst in der Sodafabrik zu Beresnikchimstroj – dort gab es mehr Geld, auch die Dimensionen waren andere, und auch das Kartensystem machte sich bemerkbar.
    Im Chemiekombinat von Beresniki leitete er einen Zirkel ›ökonomische Bildung für Freiwillige‹. Ein kostenloser Zirkel für alle Interessierten. Der Zirkel war die gesellschaftliche Arbeit von Pawel Pawlowitsch Sybalow, und er traf sich im Hauptkontor von Chimstroj. In diesem Zirkel war ich ein paar Mal bei Sybalow im Unterricht.
    Sybalow, ein Professor aus der Hauptstadt, ein Verbannter, leitete die Veranstaltung mit Vergnügen und Leichtigkeit. Er sehnte sich nach den Vorlesungen, nach dem Unterrichten. Ich weiß nicht, ob er in seinem Leben elftausend Vorlesungen gehalten hat wie ein anderer Lagerbekannter von mir, aber dass sie nach Tausenden zählten, war gewiss.
    Dem Verbannten Sybalow starb in Beresniki die Frau, ihm blieb eine Tochter, ein Mädchen von etwa zehn Jahren, das manchmal während unseres Unterrichts zum Vater kam.
    In Beresniki kannte man mich gut. Ich hatte es abgelehnt, mit Bersin an die Kolyma zu fahren, zur Eröffnung von Dalstroj, und versucht, in Beresniki Arbeit zu finden .
    Aber als was? Als Jurist? Ich hatte eine unabgeschlossene juristische Ausbildung. Niemand anders als Sybalow riet mir zur Annahme einer Stelle als Leiter des Büros für Arbeitsökonomie, BET, bei der Wärmeelektrozentrale Beresniki, der TEZ, so die berühmten linguistischen Glücksgriffe jener Zeit, die auch bei uns, auf der Baustelle des ersten Fünfjahrplans, sofort aufkamen. Direktor des TEZ war ein Schädling – der Ingenieur Kapeller, ein Mann, der durch den Schachty- oder irgendeinen anderen Prozess gegangen war. Die TEZ war schon Ausbeutung und nicht mehr Baustelle, die Inbetriebsetzung zog sich unverschämt hin, aber diese Unverschämtheit war zum Gesetz erhoben. Kapeller, zu zehn oder sogar fünfzehn Jahren verurteilt, war einfach unfähig, sich auf den Ton dieser ganzen lärmenden Baustelle einzustellen, auf der die Arbeiter und Techniker täglich wechselten und auf der schließlich die Chefs verhaftet und erschossen und Züge mit Verbannten, Opfern der Kollektivierung, ausgeladen wurden. Kapeller war bei sich in Kisel für wesentlich geringere Vergehen verurteilt worden, [als] die Schludereien in der Produktion, die hier zu einer machtvollen Lawine anwuchsen. Neben seinem Kabinett klopften noch die Hämmer, und zu dem von der Firma »Hanomag«

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