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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Fassofen zu heizen, auch noch mit Steinkohle, dafür war jeder Häftling nach Artikel achtundfünfzig in jenen Jahren an der Kolyma qualifizierter als irgendein Heizer. Das Bodenwischen auf Matrosenart, den Lappen auf einen Stock gezogen, beherrschte ich gut aus dem Jahr 1939, aus dem Durchgangslager in Magadan. Schließlich hatte ich, der berühmte Magadaner Bodenwischer, mich das ganze Frühjahr 1939 damit beschäftigt und es für mein Leben gelernt.
    Ich arbeitete damals im Schacht, erfüllte die »Prozente« – die Kohle hatte nichts zu tun mit dem Goldbergwerk, aber von der märchenhaften Arbeit als Gehilfe im Chemielabor konnte ich natürlich nur träumen.
    Ich bekam die Möglichkeit mich auszuruhen, mir Gesicht und Hände zu waschen – der von Kohlestaub getränkte Auswurf sollte erst viele Monate oder auch Jahre nach meiner Zeit als Gehilfe eine helle Farbe annehmen. Über die Farbe des Auswurfs brauchte ich nicht nachzudenken.
    Das Labor, das in der Siedlung eine ganze Baracke einnahm und viel Personal hatte – zwei Chemieingenieure, zwei Techniker, drei Laboranten –, leitete die junge hauptstädtische Komsomolzin Galina Pawlowna Sybalowa, eine Vertragsarbeiterin, ebenso wie ihr Mann, Pjotr Jakowlewitsch Podossenow, Autoingenieur und Verwalter des Kraftverkehrsbetriebs des Kohlereviers von Arkagala.
    Das Leben der Freien schauen sich die Häftlinge an wie einen Kinofilm – wie ein Drama, einen komischen, einen Landschaftsfilm, nach der klassischen vorrevolutionären Genre-Unterteilung im Filmverleih. Selten treten die Helden des Kinofilms von der Leinwand in den Zuschauersaal des Elektrotheaters (wie das Kinotheater früher hieß). Das Leben der Freien schauen sich die Häftlinge an wie einen Kinofilm. Das bedeutet ein Vergnügen der besonderen Art. Man braucht nichts zu entscheiden. Einmischen soll man sich nicht in dieses Leben. Vor irgendwelche realen Probleme stellt diese Koexistenz der unterschiedlichen Welten die Häftlinge nicht. Einfach eine andere Welt.
    Hier heizte ich die Öfen. Mit Steinkohle muss man umgehen können, aber es ist keine schwierige Wissenschaft. Ich wischte die Böden. Und vor allem behandelte ich meine Zehen – die Osteomyelitis aus dem Jahr achtunddreißig heilte erst auf dem Festland ab, fast schon zum Zwanzigsten Parteitag. Und vielleicht war sie auch da noch nicht abgeheilt.
    Ich rollte saubere Flicken auf, wechselte den Verband an den eiternden Zehen beider Füße und erstarrte in Seligkeit vor dem geheizten Ofen, bei einem ganz feinen Schmerz und Reißen in diesen vom Bergwerk verwundeten, vom Gold verkrüppelten Zehen. Vollkommene Seligkeit erfordert auch ein wenig Schmerz, davon zeugen die Gesellschafts- wie die Literaturgeschichte.
    Jetzt dröhnte und schmerzte mein Kopf, die schmerzenden Zehen hatte ich vergessen, das eine Gefühl wurde vom anderen, prägnanteren, für das Leben wichtigeren verdrängt.
    Ich hatte mich noch an nichts erinnert, nichts gelöst, nichts gefunden, aber mein ganzes Hirn, seine vertrockneten Zellen spannten sich alarmiert an. Das für den Kolymabewohner unnötige Gedächtnis – tatsächlich, was braucht ein Lagerbewohner ein so unzuverlässiges, so hinfälliges, so zupackendes und so mächtiges Gedächtnis? – sollte mir eine Lösung eingeben. Ach, was hatte ich früher für ein Gedächtnis, vor vier Jahren! Mein Gedächtnis war wie ein Schuss, und wenn ich mich an etwas nicht sofort erinnern konnte – wurde ich krank und konnte mich mit nichts beschäftigen, bis mir einfiel, was ich brauchte. Solche Fälle der verzögerten Herausgabe hatte es in meinem Leben sehr selten, ein paar wenige Male gegeben. Schon die Erinnerung an so eine Verzögerung wirkte anspornend, beschleunigend auf die ohnehin schnelle Arbeit des Gedächtnisses.
    Doch mein heutiges Arkagala-Hirn, erschöpft von der Kolyma des Jahres achtunddreißig, gequält von vier Jahren Wanderschaft zwischen Krankenhaus und Mine, hütete ein Geheimnis und wollte sich dem Befehl, der Bitte, dem Flehen, dem Gebet, der Klage einfach nicht beugen.
    Ich flehte mein Gehirn an, wie man ein höheres Wesen anfleht, zu antworten, mir irgendeine Wand aufzutun, irgendeine dunkle Spalte zu erleuchten, in der verborgen ist, was ich suche.
    Und das Hirn erbarmte sich, erfüllte die Bitte, bequemte sich meinem Flehen.
    Was war das für eine Bitte?
    Ich sprach ohne Ende den Nachnamen meiner Laborleiterin – Galina Pawlowna Sybalowa! Sybalowa, Pawlowna! Sybalowa!
    Irgendwo hatte ich diesen Namen

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