Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
beschlossen, dass man von meinen Händen die Pellagrahandschuhe abnehmen musste und von den Füßen die Füßlinge.
Diese Handschuhe und Füßlinge wurden mir von Lesnjak und Sawojewa, Pantjuchow und Traut abgenommen und der »Krankengeschichte« beigelegt. Nach Magadan geschickt zusammen mit meiner Krankengeschichte, als lebendiges Exponat für ein Museum der Regionalgeschichte oder mindestens der Geschichte des örtlichen Gesundheitswesens.
Lesnjak schickte nicht all meine Überreste zusammen mit der Krankengeschichte. Geschickt wurden nur die Füßlinge und ein Handschuh, und den zweiten lagerte ich bei mir zusammen mit meiner damaligen Prosa, einer ziemlich schüchternen, und den unentschlossenen Gedichten.
Mit dem toten Handschuh konnte man keine guten Verse oder gute Prosa schreiben. Der Handschuh selbst war Prosa, Anklage, Dokument, Protokoll.
Aber der Handschuh kam um an der Kolyma – und darum auch wird diese Erzählung geschrieben. Der Autor verbürgt sich dafür, dass das daktyloskopische Muster an beiden Handschuhen dasselbe ist.
Über Boris Lesnjak und Nina Wladimirowna Sawojewa hätte ich längst schreiben müssen. Eben Lesnjak und Sawojewa, und auch Pantjuchow, verdanke ich reale Hilfe in meinen schwersten Tagen und Nächten an der Kolyma. Verdanke ich mein Leben. Wenn man das Leben für einen Segen hält, woran ich zweifle, verdanke ich reale Hilfe, nicht Mitgefühl, nicht Mitleiden, sondern reale Hilfe drei realen Menschen des Jahres 1943. Man muss wissen, dass sie nach acht Jahren Wanderschaft von den Goldbergwerken bis ins Untersuchungskombinat und Erschießungsgefängnis der Kolyma in mein Leben traten, in das Leben eines
dochodjaga
aus dem Goldbergwerk der Jahre siebenunddreißig und achtunddreißig, eines
dochodjaga
, der seine Meinung über das Leben als einen Segen geändert hatte. Damals beneidete ich nur die Leute, die den Mut gefunden hatten, sich umzubringen während der Zusammenstellung unserer Etappe an die Kolyma, im Juli siebenunddreißig, im Etappentrakt des Butyrka-Gefängnisses. Diese Menschen beneide ich wirklich – sie haben das nicht gesehen, was ich in den folgenden siebzehn Jahren gesehen habe.
Meine Vorstellung vom Leben als einem Segen, einem Glück hat sich geändert. Die Kolyma hat mich etwas ganz anderes gelehrt.
Die Maxime meines Jahrhunderts, meiner persönlichen Existenz und meines ganzen Lebens, der Schluss aus meiner persönlichen Erfahrung, die Regel, die ich mir aus dieser Erfahrung gewonnen habe, lässt sich in wenigen Worten ausdrücken. Als erstes muss man die Ohrfeigen zurückgeben und erst an zweiter Stelle die Almosen. An das Böse sich vor dem Guten erinnern. An alles Gute sich hundert Jahre erinnern, an alles Schlechte – zweihundert. Darin unterscheide ich mich von allen russischen Humanisten des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts.
<1972>
Galina Pawlowna Sybalowa
Im ersten Kriegsjahr wurde der rußende Docht in der Lampe der Wachsamkeit ein wenig heruntergedreht. Um die Baracke von Artikel achtundfünfzig entfernte man den Stacheldraht, und man ließ die Volksfeinde zur Erfüllung wichtiger Funktionen wie der Tätigkeit eines Heizers, Gehilfen und Wächters zu, die nach der Lagerverfassung nur ein
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, im schlimmsten Fall ein krimineller Rückfalltäter übernehmen konnte.
Doktor Lunin, Häftling und Chef unserer Sanitätsabteilung, ein Realist und Pragmatiker, fand zu recht, man müsse den Moment ergreifen und das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Der Gehilfe im Chemielabor des Kohlereviers von Arkagala wurde beim Diebstahl von staatlichem Glyzerin (Honig! Fünfzig Rubel das Glas!) erwischt, und der ihn ablösende neue Wächter stahl schon in der ersten Nacht das Doppelte – die Lage spitzte sich zu. Auf all meinen Wanderungen durch die Lager habe ich beobachtet, dass jeder Häftling, wenn er auf eine neue Arbeit kommt, sich vor allem umschaut: Was könnte man hier stehlen? Das gilt für alle – von den Barackendiensten bis zu den Verwaltungschefs. Es steckt etwas Mystisches in dieser Neigung des russischen Menschen zum Diebstahl. Zumindest unter den Bedingungen des Lagers, den Bedingungen des Nordens, den Bedingungen der Kolyma.
All diese Momente, die Lösungen für die wiederkehrenden Situationen machen sich auch die Volksfeinde zunutze. Nach dem Scheitern der Karriere gleich des zweiten
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-Gehilfen empfahl Lunin mich als Gehilfen im Chemielabor – er wird nämlich die kostbare Chemie nicht stehlen, und den
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