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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Menschen selbst. Doch es gibt eine Grenze, einen Übergang, eine Trennlinie von Gut und Böse, eine moralische Grenze, die man sofort spürt.
    Galina Pawlowna und auch ihr Mann Pjotr Jakowlewitsch vertraten nicht die Extremposition des aktiven Feindes jedes Häftlings, allein schon darum, weil ihr Mann Häftling war, obwohl Galina Pawlowna Komsomolsekretärin des Kohlereviers von Arkagala war. Pjotr Jakowlewitsch war parteilos.
    An den Abenden blieb Galina Pawlowna oft im Labor – die Familienbaracke, in der sie wohnten, war wohl kaum gemütlicher als die Kabinette des Chemielabors.
    Ich fragte Galina Pawlowna, ob sie in Beresniki im Ural gelebt hat Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre.
    »Ja!«
    »Und Ihr Vater ist Pawel Pawlowitsch Sybalow?«
    »Pawel Ossipowitsch.«
    »Ganz richtig. Pawel Ossipowitsch. Und Sie waren ein Mädchen von etwa zehn Jahren.«
    »Vierzehn.«
    »Trugen einen bordeauxroten Mantel.«
    »Einen kirschroten Pelz.«
    »Gut, einen Pelz. Sie haben Pawel Ossipowitsch das Frühstück gebracht.«
    »Ja. Meine Mutter ist dort gestorben, in Tschurtan.« Pjotr Jakowlewitsch saß gleich nebenan.
    »Sieh nur, Petja , Warlam Tichonowitsch kennt Papa.«
    »Ich habe seinen Zirkel besucht.«
    »Und Petja stammt aus Beresniki. Er ist von dort. Seine Eltern haben ein Haus in Weretje.«
    Podossenow nannte mir einige Namen, die in Beresniki und Ussolje, in Solikamsk, in Weretje, in Tschurtan und Dedjuchino bekannt waren – die Sobjanikows, die Kitschins –; aber durch die Umstände meiner Biographie hatte ich keine Möglichkeit gehabt, mich an dort Einheimische zu erinnern und sie zu kennen.
    Für mich klangen all diese Namen wie »Tschiktosy und Komantschi« , wie Verse in einer fremden Sprache, aber Pjotr Jakowlewitsch sprach sie wie Gebete, immer begeisterter.
    »Heute ist das alles mit Sand zugeschüttet«, sagte Podossenow. »Das Chemiekombinat.«
    »Und Papa ist jetzt im Donbass «, sagte Galina Pawlowna, und ich verstand, dass ihr Vater erneut verbannt war.
    Dabei blieb es. Ich spürte wahre Zufriedenheit und Freude, weil mein armes Hirn so gut funktionierte. Eine rein akademische Zufriedenheit.
    Etwa zwei Monate waren vergangen, nicht mehr, Galina Pawlowna kam zur Arbeit und rief mich in ihr Kabinett.
    »Ich habe einen Brief von Papa bekommen. Hier.«
    Ich las die deutlichen Zeilen einer großen, mir ganz unbekannten Schrift:
    »Schalamow kenne ich nicht und erinnere mich nicht an ihn. Ich habe ja solche Zirkel zwanzig Jahre lang veranstaltet in der Verbannung, wo immer ich war. Ich veranstalte sie noch heute. Es geht nicht darum. Was hast du mir für einen Brief geschrieben? Was ist das für eine Überprüfung? Und wessen? Schalamows? Deiner selbst? Meiner Person? Was mich betrifft«, schrieb Pawel Ossipowitsch Sybalow in großer Schrift, »lautet meine Antwort so. Geh mit Schalamow um, wie Du mit mir umgehen würdest, wenn Du mich an der Kolyma anträfst. Aber um meine Antwort zu kennen, hättest du keinen Brief schreiben müssen.«
    »Sehen Sie, was herausgekommen ist«, sagte Galina Pawlowna gekränkt. »Sie kennen Papa schlecht. Er wird mir diesen Patzer niemals verzeihen.«
    »Ich habe Ihnen nichts Besonderes gesagt.«
    »Auch ich habe Papa nichts Besonderes geschrieben. Aber sehen Sie, wie Papa diese Dinge betrachtet. Jetzt können Sie schon nicht mehr als Gehilfe arbeiten«, überlegte Galina Pawlowna traurig. »Wieder einen neuen Gehilfen suchen. Und Sie stelle ich als Techniker ein – wir haben eine Vakanz bei den Stellen für Freie. Wenn Swischtschew abreist, der Chef des Kohlereviers, wird ihn Oberingenieur Jurij Iwanowitsch Kotschura ersetzen. Und über ihn werde ich Sie einstellen lassen.«
    Aus dem Labor wurde niemand entlassen, ich musste niemanden verdrängen, und angeleitet und unterstützt von den Ingenieuren Sokolow und Oleg Borissowitsch Maksimow, letzterer noch heute rüstiges Mitglied der Fernöstlichen Akademie der Wissenschaften, begann ich meine Karriere als Laborant und Techniker.
    Für den Mann von Galina Pawlowna, Pjotr Jakowlewitsch Podossenow, schrieb ich auf seine Bitte eine große literaturwissenschaftliche Arbeit – ich verfasste aus dem Gedächtnis ein Wörterbuch der Ganovenausdrücke, ihre Entstehung, Veränderungen, Auslegungen. Das Wörterbuch hatte etwa sechshundert Wörter – nicht wie jene Spezialliteratur, die die Kriminalpolizei für ihre Mitarbeiter herausgibt, sondern unter einem anderen, umfassenderen Aspekt und in subtilerer Form. Das

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