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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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man mich in einen Saal mit Ofen, und dort stand ich am Ofen, bis man mich zu Spritzen oder Untersuchungen rief, und verstand kaum, wie mir geschah, und spürte nur Hunger, Hunger, Hunger.
    Meine Krankheit hieß Pellagra.
    Und während dieser zweiten Hospitalisierung lernte ich auch Lesnjak und die Oberärztin Nina Wladimirowna Sawojewa, Traut und Pantjuchow kennen – sämtliche Ärzte von »Belitschja«.
    Mein Zustand war so, dass man mir schon nichts Gutes mehr tun konnte. Mir war gleichgültig, ob man mir Gutes oder Böses tut. Auf meinen Pellagra-Körper eines
dochodjaga
von der Kolyma auch nur einen Tropfen Gutes zu verwenden, war vergebliche Mühe. Wärme war mir wichtiger als Gutes. Doch man versuchte, mich mit heißen Injektionen zu behandeln – die Ganoven kauften eine »PP«-Injektion für eine Brotration, die Pellagrakranken verkauften ihre heiße Injektion gegen Brot, eine Mittagsration von dreihundert Gramm, und im Kabinett erschien zur Infusion anstelle des
dochodjaga
irgendein Krimineller. Und bekam die Injektion. Ich verkaufte meine »PP« an niemanden und bekam alles in die eigene Vene, nicht »per os« – als Brot.
    Wer hier Recht hat, wer schuld ist – sollen andere entscheiden. Ich verurteile niemanden, weder die
dochodjagi
, die die heißen Injektionen verkaufen, noch die kaufenden Ganoven.
    Nichts änderte sich. Der Wunsch zu leben kam nicht auf. Ich aß alles wie in Gedanken, schluckte jedes Essen ohne Appetit.
    Bei dieser zweiten Hospitalisierung spürte ich, dass meine Haut sich unaufhaltsam schälte – am ganzen Körper juckte, kribbelte und löste sich die Haut in Schuppen, sogar in Schichten ab. Ich war ein Pellagrapatient des klassischen diagnostischen Musters, ein Ritter der drei »D« – Demenz, Dysenterie und Dystrophie.
    Nicht vieles habe ich behalten von dieser zweiten Hospitalisierung in »Belitschja«. Irgendwelche neuen Bekanntschaften, irgendwelche Gesichter, irgendwelche abgeleckten Löffel, ein vereistes Flüsschen, einen Ausflug in die Pilze, auf dem ich wegen Hochwassers des Flüsschens eine ganze Nacht durch die Berge streifte und vor dem Fluss zurückwich. Ich sah, wie die Pilze, riesige Butterpilze und Rotkappen, tatsächlich vor meinen Augen wuchsen, zu Ein-Pud-Pilzen wurden und nicht in den Eimer passten. Das war kein Zeichen von Demenz, sondern ein vollkommen reales Schauspiel – welche Wunder bewirkt die Hydroponik: Pilze verwandeln sich in Gullivers, buchstäblich vor deinen Augen. Die Beeren, die ich nach der Kolyma-Methode sammelte, auf einen Streich – ich schlug mit dem Eimer auf die Blaubeerbüsche … Aber all das war nach dem Abschuppen.
    Damals fiel die Haut von mir ab wie Schuppen. Zusätzlich zu meinen Skorbutgeschwüren eiterten die Zehen nach der Osteomyelitis von den Erfrierungen. Wackelnde Skorbutzähne und pyodermische Geschwüre, deren Spuren noch heute an meinen Füßen sind. Ich erinnere mich an den leidenschaftlichen beständigen Wunsch zu essen, der durch nichts zu stillen war – und als Krönung des Ganzen: die in Schichten abfallende Haut.
    Dysenterie hatte ich nicht, aber ich hatte Pellagra – jenes Klümpchen Schleim, das mich auf diese obskuren irdischen Wege geführt hatte, war ein Klümpchen, das der Darm eines Pellagrakranken ausgeworfen hatte. Mein Kot war Pellagra-Kot.
    Das war noch fürchterlicher, aber mir war damals alles gleich. Ich war nicht der einzige Pellagrakranke in »Belitschja«, aber der schwerste, der ausgeprägteste.
    Ich schrieb schon ein Gedicht, »Der Traum des Polyavitaminosekranken« – als Pellagrakranken mochte ich mich nicht einmal in Gedichten bezeichnen. Im Übrigen wusste ich auch nicht richtig, was Pellagra ist. Ich spürte nur, dass meine Finger schreiben, Gereimtes und Ungereimtes, dass meine Finger ihr letztes Wort noch nicht gesagt haben.
    Und in diesem Moment spürte ich, dass sich der Handschuh löst, von meiner Hand abfällt. Es war unterhaltsam und gar nicht schrecklich, die eigene Haut in Schichten vom Körper abfallen, Plättchen von Schultern, Bauch und Armen fallen zu sehen.
    Als Pellagrakranker war ich so ausgeprägt, so klassisch, dass man mir von beiden Händen komplette Handschuhe abnehmen konnte und von beiden Füßen die Füßlinge.
    Man führte mich der medizinischen Leitung vor, wenn sie auf der Durchreise war, aber auch diese Handschuhe erstaunten niemanden.
    Es kam der Tag, an dem sich meine Haut vollständig erneuert hatte – nur die Seele hatte sich nicht erneuert.
    Es war

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