Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
montierten Kessel rief Moskau schon mit Telegrammen Heilkundige aus dem Ausland herbei.
Kapeller stellte mich ein, stellte mich überaus gleichgültig ein – ihn beschäftigten technische Fragen und technische Tragödien, die nicht geringer waren als die ökonomischen und alltagspraktischen.
Zu Kapellers Unterstützung hatte die Parteiorganisation als Stellvertretenden Direktor für die Produktionsberatungen Timofej Iwanowitsch Ratschew empfohlen, einen wenig kenntnisreichen, aber tatkräftigen Mann, der vor allem die Bedingung stellte, niemanden »die Klappe aufreißen zu lassen«. Das Büro für Arbeitsökonomie war Ratschew unterstellt, und ich habe lange bei mir ein Blatt mit seiner Anordnung aufbewahrt. Die Heizer hatten eine große begründete Eingabe eingereicht über zu geringe Löhne, über ihre Neuberechnung – lange waren sie zu Ratschew gelaufen in dieser Frage. Ohne ihren Bericht durchzulesen, schrieb Ratschew: »An den Leiter BET Gen. Schalamow. Bitte um Klärung und nach Möglichkeit Ablehnung.«
An diese Arbeit war ich, ein Jurist mit nicht abgeschlossener Ausbildung, eben auf Sybalows Raten gekommen.
»Nur Mut! Gehen Sie hin und fangen Sie an. Selbst wenn man Sie nach zwei Wochen hinauswirft – früher wird man nach Kollektivvertrag nicht entlassen –, werden Sie in diesen zwei Wochen eine gewisse Erfahrung sammeln. Dann treten Sie wieder an. Fünf solcher Entlassungen, und Sie sind fertiger Ökonom. Haben Sie keine Angst. Wenn Sie auf Schwierigkeiten treffen, kommen Sie. Ich helfe Ihnen. Ich werde ja nirgendwohin verschwinden. Unterliege nicht den Gesetzen der Fluktuation.«
Ich nahm diese gut bezahlte Stelle an.
Zur gleichen Zeit organisierte Sybalow eine Abendfachschule für Ökonomie. Pawel Pawlowitsch (ich glaube, Pawlowitsch) war der Hauptdozent an dieser Fachschule. Ich sollte dort ebenfalls einen Kurs zur »Hygiene und Physiologie der Arbeit« halten.
Ich hatte schon einen Antrag bei dieser neuen Fachschule eingereicht, hatte den Plan der ersten Stunde im Kopf, als ich plötzlich einen Brief aus Moskau erhielt. Meine Eltern waren am Leben, meine Universitätskollegen waren auch am Leben, und in Beresniki zu bleiben kam dem Tod gleich. Ich verließ die TEZ ohne Abrechnung, und Sybalow blieb in Beresniki.
An all das erinnerte ich mich in Arkagala, im Chemielabor des Kohlereviers von Arkagala, an der Schwelle zum Geheimnis der Huminsäuren .
Die Rolle des Zufalls ist sehr groß im Leben, und obwohl die allgemeine Weltordnung das Ausnutzen eines Zufalls zu persönlichen Zwecken straft, kommt es vor, dass sie auch nicht straft. Die Frage mit Sybalow musste ergründet werden. Aber vielleicht auch nicht. Mir fehlte es in jener Zeit schon nicht mehr an einem Stück Brot. Der Schacht ist nicht das Bergwerk, die Kohle nicht das Gold. Vielleicht lohnte es nicht, dieses Kartenhaus zu bauen – der Wind wird das Bauwerk umwerfen und in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuen.
Die Verhaftung in der »Juristen-Affäre« vor drei Jahren hatte mir ja ein wichtiges Lagergesetz beigebracht: sich niemals mit Bitten an Menschen zu wenden, die man persönlich aus der Freiheit kennt – die Welt ist klein, solche Begegnungen kommen vor. Fast immer an der Kolyma ist so eine Bitte unangenehm, manchmal unmöglich, manchmal führt sie zum Tod des Bittenden.
Diese Gefahr ist an der Kolyma – so wie in jedem Lager – vorhanden. Ich hatte eine Begegnung mit Tschekanow, meinem Zellennachbarn aus dem Butyrka-Gefängnis. Tschekanow erkannte mich nicht nur wieder unter der Menge der Arbeiter, als er unseren Abschnitt als Vorarbeiter übernahm, er riss mich jeden Tag am Arm aus dem Verband, schlug mich und setzte mich bei den schwersten Arbeiten ein, bei denen ich natürlich auch die Prozente nicht bringen konnte. Tschekanow trug dem Abschnittschef jeden Tag über mein Betragen vor und versicherte ihm, er werde diese Kanaille vernichten, er streite die persönliche Bekanntschaft nicht ab, aber werde seine Ergebenheit zeigen und das Vertrauen rechtfertigen. Tschekanow war nach demselben Paragraphen verurteilt wie ich. Am Ende schob mich Tschekanow in einen Strafpunkt ab, und ich blieb am Leben.
Ich kannte auch Oberst Uschakow, den Chef der Ermittlungs- und später der Binnenwasserabteilung der Kolyma – kannte Uschakow als einfachen Kriminalpolizisten, der verurteilt war für ein Dienstvergehen.
Ich habe niemals versucht, Oberst Uschakow an mich zu erinnern. Ich wäre in kürzester Zeit umgebracht worden.
Zu
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