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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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hielt die Verfolgung aller »Volksfeinde« in jeder Form, aus jedem Anlass, unter allen Umständen und bei jeder Gegenheit für seine Berufung, seine Pflicht, seinen moralischen Imperativ.
    In der vollen Überzeugung, etwas Wichtiges ausheben zu können, stürzte er in den Verbandsraum, ohne auch nur einen Kittel überzuziehen, obwohl ihm der diensthabende Feldscher der Inneren, ein ehemaliger rumänischer Offizier und Liebling von König Mihai, der rotgesichtige Pomane, den Kittel in den ausgestreckten Händen hinterhertrug. Doktor Doktor kam in den Verbandsraum in einer Lederjacke vom Schnitt von Stalins Uniformrock, selbst Doktor Doktors Puschkinscher blonder Backenbart – Doktor Doktor war stolz auf seine Ähnlichkeit mit Puschkin – sträubte sich vor Jagdfieber.
    »A-a-a«, sagte der Krankenhauschef gedehnt, er ließ die Augen von einem Lesungsteilnehmer zum anderen gleiten und hielt bei mir an, »gerade dich brauche ich!«
    Ich stand auf, Hände an die Hosennaht, und meldete, wie es sich gehört.
    »Und woher kommst du?«, Doktor Doktor zeigte mit dem Finger auf die junge Frau, die in der Ecke saß und nicht aufgestanden war beim Erscheinen des wütenden Chefs.
    »Ich liege hier«, sagte die junge Frau trocken, »und bitte, mich nicht zu duzen.«
    »Was heißt, liegt hier?«
    Der Kommandant, der gemeinsam mit dem Chef gekommen war, erklärte Doktor Doktor den Status der kranken jungen Frau.
    »Gut«, sagte Doktor Doktor drohend, »ich kläre das. Wir unterhalten uns noch!« Und verließ den Verbandsraum. Portugalow und Dobrowolskij waren längst aus dem Verbandsraum hinausgeschlüpft.
    »Was wird jetzt passieren?«, sagte die junge Frau, aber in ihrem Ton spürte man keinen Schreck, sondern nur Interesse an der juristischen Natur der aufziehenden Ereignisse. Interesse, aber keine Furcht oder Angst um das eigene oder ein fremdes Schicksal.
    »Mir«, sagte ich, »wird, denke ich, nichts passieren. Und Sie könnte man aus dem Krankenhaus entlassen.«
    »Na, wenn er mich entlässt«, sagte die junge Frau, »dann verspreche ich diesem Doktor Doktor ein gutes Leben. Soll er sich nur mucksen, ich mache ihn mit der ganzen obersten Leitung bekannt, die es an der Kolyma gibt.«
    Aber Doktor Doktor hielt den Mund. Sie wurde nicht entlassen. Doktor hatte sich mit ihren Möglichkeiten bekannt gemacht und beschlossen, das Ereignis zu übergehen. Die junge Frau blieb die für die Quarantäne vorgesehene Zeit und fuhr ab, verschwand im Nichts.
    Mich ließ der Krankenhauschef auch nicht verhaften, nicht in den Karzer setzen, nicht in den Strafisolator schicken, nicht zu den allgemeinen Arbeiten versetzen. Aber beim nächsten Rechenschaftsvortrag auf der Vollversammlung der Mitarbeiter des Krankenhauses, im überfüllten Kinosaal mit sechshundert Plätzen, berichtete der Chef eingehend von jenen Schandtaten, die er, der Chef, in der Chirurgie bei der Visite mit eigenen Augen gesehen hat, als der Feldscher Soundso im Operationssaal saß und mit einer dort erschienenen Frau aus einer gemeinsamen Schüssel Preiselbeeren aß. Hier, im Operationssaal …
    »Nicht im Operationssaal, sondern im Verbandsraum der septischen Abteilung.«
    »Na, ganz egal!«
    »Überhaupt nicht egal!«
    Doktor Doktor blinzelte. Die Stimme gehörte Rubanzew, dem neuen Leiter der Chirurgischen Abteilung – einem Frontchirurgen aus dem Krieg. Doktor Doktor überging den Kritikaster und setzte seine Invektiven fort. Die Frau wurde nicht beim Namen genannt. Doktor Doktor, der mit allen Machtbefugnissen ausgestattete Herr unserer Seelen, Herzen und Körper, verschwieg aus irgendeinem Grund den Namen der Heldin. In allen ähnlichen Fällen werden in Vorträgen und Ordern alle möglichen und unmöglichen Einzelheiten ausgemalt.
    »Und was ist dem Feldscher, dem
seka
für einen so offensichtlichen Verstoß, den auch noch der Chef persönlich festgestellt, passiert?«
    »Gar nichts.«
    »Und ihr?«
    »Auch nichts.«
    »Und wer ist sie?«
    »Das weiß niemand.«
    Irgendjemand hatte Doktor Doktor geraten, dieses Mal seine administrative Begeisterung zu zügeln.
    Ein halbes Jahr oder ein Jahr nach diesen Ereignissen, als auch Doktor Doktor längst nicht mehr im Krankenhaus war – für seine Beflissenheit hatte man ihn irgendwohin vorwärts und nach oben versetzt –, fragte mich ein Feldscher, mein Mitschüler aus dem Lehrgang, als wir durch den Korridor der chirurgischen Abteilung liefen:
    »Das ist doch der Verbandsraum, in dem eure Attischen Nächte

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