Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Held« las ebenfalls Dobrowolskij. Pyrjew und Ladynina hatten dem ehemaligen Drehbuchautor der »Traktoristen« auch dieses Poem geschickt.
Wir alle verstanden, dass ein Gedicht ein Gedicht ist und kein Gedicht – kein Gedicht, dass in der Poesie die Bekanntheit nichts entscheidet. Jeder von uns hatte seine Rechnung die Poesie betreffend, ich würde sie Hamburger Rechnung nennen, wenn dieser Terminus nicht so abgegriffen wäre. Wir beschlossen einträchtig, die Zeit unserer Poesienächte nicht mit der Aufnahme solcher Namen wie Bagrizkij, Lugowskoj und Swetlow in unsere mündliche Gedicht-Anthologie zu verausgaben, obwohl Portugalow gemeinsam mit einem von ihnen in einer literarischen Gruppe war. Unsere Liste hatte sich längst geläutert. Unsere Abstimmung war die allergeheimste gewesen – denn für ein und dieselben Namen hatten wir vor vielen Jahren gestimmt, jeder für sich, an der Kolyma. Die Auswahl deckte sich in den Namen, den Gedichten, den Strophen und sogar einzelnen Versen, die jeder besonders hervorhob. Das lyrische Erbe des neunzehnten Jahrhunderts befriedigte uns nicht, erschien uns unzureichend. Jeder las, was ihm wieder eingefallen war und er während der Pause zwischen diesen Gedichtnächten aufgeschrieben hatte. Wir waren noch nicht zum Lesen der eigenen Gedichte gekommen – es war klar, alle drei schreiben oder schrieben Gedichte –, als unsere Attischen Nächte auf unerwartete Weise unterbrochen wurden.
In der Chirurgie lagen mehr als zweihundert kranke Häftlinge, und das ganze Krankenhaus hatte tausend Häftlingsbetten. Ein Teil des T-förmigen Gebäudes sollte für kranke Vertragsarbeiter genutzt werden. Das war eine vernünftige und nützliche Maßnahme. Die Ärzte, die selbst Häftlinge waren – unter ihnen nicht wenige Leuchten der Medizin im Unionsmaßstab –, erhielten offiziell das Recht, Vertragsarbeiter zu behandeln, als Konsultanten, die immer bei der Hand waren, zu jeder Tages-, Jahres- und Dekadenzeit …
In dem Winter unserer Poesieabende gab es die Abteilung für Vertragsarbeiter noch nicht. Nur in der Chirurgie des Häftlingskrankenhauses war ein Krankensaal mit zwei Betten – für Vertragsarbeiter bei dringender Hospitalisierung, bei einer Verletzung, zum Beispiel einem Autounfall. Das Zimmer stand nicht leer. Dieses Mal lag in dem Zimmer eine junge Frau, etwa dreiundzwanzig, eine in den Hohen Norden angeworbene Moskauer Komsomolzin. Rundum lagen ausschließlich Kriminelle, aber die junge Frau bestürzte das nicht – sie war Komsomol-Sekretärin in einem der Nachbar-Bergwerke. An die Kriminellen dachte die junge Frau nicht, sie verhielt sich unbefangen, wahrscheinlich aus mangelnder Vertrautheit mit den Besonderheiten der Kolyma. Die junge Frau kam um vor Langeweile. Die Krankheit, derentwegen sie eilig eingewiesen worden war, hatte sie nicht. Aber die Medizin ist die Medizin, die junge Frau musste die vorgesehene Quarantäne abliegen, um über die Krankenhausschwelle zu treten und im Abgrund des Frosts zu verschwinden. Sie hatte bedeutende Beziehungen in der Magadaner Verwaltung selbst. Darum war sie auch eingewiesen worden in das Lagerkrankenhaus für Männer.
Die junge Frau fragte mich, ob sie bei einem Poesieabend zuhören dürfte. Ich erlaubte es. Sobald das nächste Lesen begann, kam sie in den Verbandsraum der septischen Abteilung und blieb bis zum Ende der Lesung. Zum folgenden Poesieabend war sie ebenfalls da. Diese Abende fanden zu meiner Dienstzeit statt – jeden dritten Tag. Ein weiterer Abend war vergangen, und als der dritte Abend begann, wurde die Tür des Verbandsraums aufgerissen, und über die Schwelle schritt der Krankenhauschef Doktor Doktor selbst.
Doktor Doktor hasste mich. Dass man ihm unsere Abende anzeigt, hatte ich nicht bezweifelt. Die Chefs an der Kolyma gehen gewöhnlich so vor: Gibt es ein »Signal«, dann ergreifen sie Maßnahmen. »Signal« wurde hier als Terminus der Information noch vor der Geburt Norbert Wieners geprägt, wurde im Bereich von Gefängnis und Untersuchung immer im Sinne der Information benutzt. Gibt es jedoch kein »Signal«, das heißt keinen Antrag – ein mündliches, aber förmliches »Pfeifen« oder einen Befehl der obersten Leitung, die das »Signal« rascher aufgefangen hat: Vom Berg herab sieht man nicht nur besser, man hört auch besser. Aus eigener Initiative schreitet selten ein Chef zur offiziellen Untersuchung eines neuen Phänomens im Leben des ihm anvertrauten Lagers.
Doktor Doktor war anders. Er
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