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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Erzählung »ein Dokument über den Autor« und rücke die singuläre Erfahrung ihres Autors ins Zentrum. Der russische Schriftsteller Andrej Sinjawskij sprach von den »Erzählungen aus Kolyma« als einem »Lehrbuch des ›Materialwiderstands‹« und spielte darauf an, dass der Mensch im Lager zu bloßem »Menschenmaterial« degradiert wurde. Wo immer Schalamow die eigene Poetik literarischer Zeugenschaft erläutert, kommt er auf die Physiologie des menschlichen Körpers zu sprechen und verwendet häufig Begriffe wie Haut, Pore, Nerv, Blut oder Muskel. Die nachträgliche Rekonstruktion des im Lager Erlebten ist für ihn untrennbar an sichtbare wie unsichtbare Einschreibungen der Terror- und Gewaltpraktiken in den menschlichen Körper gebunden: »Man muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist. Nur muss der Autor sein Material mit der eigenen Haut erforschen – nicht nur mit dem Geist, nicht nur mit dem Herzen, sondern mit jeder Pore seiner Haut, mit jedem Nerv.« Die Darstellung des »Durchlittenen« auf der Ebene rein physiologischer Vorgänge macht die Operationen, durch die der Mensch im Lager zum
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wurde, in ihrer brutalen Materialität für den Leser sichtbar und fühlbar. Es geht Schalamow um das »Wiedererwecken des Gefühls« von einst, wie er seine zentrale ästhetische Aufgabe definiert hat.
    Authentizität als zentrales Kriterium seines literarischen Schreibens hervorzuheben, veranlasste Schalamow zugleich, mit aller Entschiedenheit auf den Unterschied hinzuweisen zwischen der »Wahrheit der Wirklichkeit« und der »künstlerischen Wahrheit«, die immer Auswahl, Verallgemeinerung, Zuspitzung sei: »Der dokumentarische Essay ist bis zur äußersten künstlerischen Potenz getrieben«, heißt es in einer Tagebuchnotiz über die eigene Erzählprosa. Entschieden wandte er sich immer wieder gegen jedwede politische Instrumentalisierung der Dichtkunst. Einziger Garant der künstlerischen Qualität eines literarischen Textes könne das Talent des Autors sein, wobei sich Schalamow emphatisch auf so unterschiedliche Dichter wie Alexander Puschkin oder Ossip Mandelstam berief und damit letztlich an die Tradition des romantischen Geniedenkens anknüpfte.
    Schalamow war Dichter. Seine Prosa, die er selbst als »schlicht« und »klar« bezeichnete, ist die eines Dichters, der über ein besonderes Gespür für Komposition, für Rhythmisierung und Melodik der Sprache verfügte. Dabei sah sich Schalamow als unmittelbaren Erben der ästhetischen Moderne vom Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem der musikalischen Struktur von Andrej Belyjs Prosa, seiner Arbeit mit Variationen, mit Wiederholungen. Schalamows literarische Gestaltungskraft setzte nicht primär am Sujet ein oder am nuancierten psychologischen Portrait, das sich aus seiner Sicht für die Situation des Menschen im Lager ohnehin grundsätzlich verbot. Wichtiger war für ihn, was er im Sinne der literarischen Moderne als »musikalische Stimmung« bezeichnete: »Überprüfung am Klang. Vielschichtigkeit und Symbolik.« Dabei spiele das »Detail als Symbol« eine wesentliche Rolle, bekräftigte Schalamow 1965 im programmatischen Essay »Über Prosa«. Es sei das »Detail als Symbol«, das »Detail als Zeichen«, das die gesamte Erzählung nicht lediglich wie eine Information auf den Leser wirken lasse, sondern sie auf eine andere Ebene überführe. Für die »Reinheit der Töne« – an anderer Stelle ist sogar die Rede von der »asketischen Reinheit des Tones« – müsse vieles geopfert werden. Und das betreffe nicht nur die »Nüchternheit der Adjektive«, sondern auch die Komposition der Erzählung.
    Es ist ein Raum der Willkür, der Unberechenbarkeit, in den Schalamow seine literarischen Figuren stellt, ein Raum, in dem sie mit der unaufhaltsamen eigenen physischen wie seelischen Zerstörung konfrontiert werden und dennoch versuchen zu leben, den nächsten Tag oder zumindest die nächste Stunde zu überleben. Menschen tauchen wie aus dem Nichts auf und verschwinden wieder, die meisten von ihnen spurlos, einige treten unverhofft erneut ins Blickfeld des Erzählers, aber in einer anderen Erzählung oder auch in einem anderen Zyklus, wobei die Erzählerfigur dann durchaus eine andere sein kann. In den Episoden wie bei der Figurenzeichnung mischt sich Reales mit Fiktivem. Reale und erfundene Personen sind nur schwer voneinander zu unterscheiden. Der autobiographische Ich-Erzähler tritt unter verschiedenen

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