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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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und Erzählungen; 1937 wurde er zum zweiten Mal verhaftet und zu fünf Jahren Lagerhaft wegen »konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit« verurteilt, schließlich im Lager (1943) erneut denunziert und zu weiteren zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Nahezu siebzehn Jahre sollte es dauern, bis Schalamow im November 1953 die Region der Kolyma wieder verlassen durfte. (Ausführlicher zu Leben und Werk Warlam Schalamows siehe das Nachwort in: Warlam Schalamow, »Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I«. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein. Matthes & Seitz Berlin 2007)
    Sein Überleben hielt Schalamow für das Ergebnis glücklicher Zufälle und einer auch für ihn erstaunlichen körperlichen Zähigkeit. Er hatte sein Leben den extremen Umständen an der Kolyma buchstäblich abgetrotzt. Zu einem Symbol der Rückkehr ins Leben wurde für ihn die Wiederkehr der Dichtung, die Auferweckung des Dichter-Wortes noch während der letzten Jahre im Lager, in denen er als Arzthelfer etwas leichtere Lebensbedingungen hatte. Zum Zeitpunkt, als Schalamow die eingangs zitierten Briefzeilen an Boris Lesnjak schrieb, lebte er seit acht Jahren wieder in Moskau und arbeitete bereits seit einem Jahrzehnt unter Hochdruck an seiner Prosa über die Kolyma. Selbstbewusst sprach er schon 1956 von deren grundlegendem literarischem Neuwert.
    »Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?« – mit dieser Frage beginnt die erste von Warlam Schalamows »Erzählungen aus Kolyma«. Einprägsam und mit präziser Kenntnis kleinster Details wird in »Durch den Schnee« geschildert, wie mehrere Männer irgendwo in einer von Menschen unberührten Gegend mühsam einen Pfad durch den Schnee bahnen. Der erste Mann gehe weit voraus, markiere den Weg »mit ungleichen schwarzen Löchern«, bleibe dabei jedoch immer wieder »im lockeren Tiefschnee« stecken. Seine Fußstapfen legen eine kaum begehbare Fährte, so dass jeder der nachfolgenden fünf oder sechs Männer »auf ein Stückchen unberührten Schnee« treten müsse. Sie folgten ihm daher, traten aber nicht in die Spur des ersten Mannes, sondern um diese herum, damit überhaupt ein Weg entstehe, den Menschen, Schlitten oder Traktoren nehmen könnten. »Auf Traktoren und Pferden«, heißt es im Schlusssatz der äußerst kurzen Erzählung, »kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser«. Damit wendet Schalamow die realistische Szene ins Gleichnishafte: Er verschiebt den Fokus auf die Fähigkeit der Literatur, Unbekanntes zu erschließen und er setzt sich selbst als Schriftsteller ein, der den ersten Schritt in ein noch gänzlich unerschlossenes Terrain wagt. Die Auftakterzählung zu den sechs Zyklen der »Erzählungen aus Kolyma« gewinnt die Kraft eines schriftstellerischen Credos.
    Schalamow ging es aber nicht so sehr um das freie Spiel der literarischen Einbildungskraft. Seine Selbstverpflichtung, literarisch zu erfassen, was ihm und Tausenden anderen in den Lagern der Kolyma-Region – am »Pol der Grausamkeit« des stalinschen GULag – widerfahren war, verstand er zugleich als ästhetische Aufgabe, »neue Verfahren der Beschreibung zu schaffen«, um eine neue Art von Literatur, eine »neue Prosa« zu schreiben. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach Auschwitz, Kolyma und Hiroshima, die sich aus seiner Sicht überall und jederzeit wiederholen könnten, hielt er es für die ethische Pflicht des Schriftstellers, die gesamte europäische humanistische Tradition mit den Mitteln der Literatur einer prinzipiellen Überprüfung zu unterziehen. Die »Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates« markierte für Schalamow einen unhintergehbaren existentiellen und epistemischen Bruch. Angesichts dieser Zäsur dürfe die Literatur den Menschen nicht weiterhin mit einer trügerischen Hoffnung auf Rettung und Erlösung abspeisen.
    Indem Schalamow den Autor programmatisch mit Pluto, dem Herrscher der Unterwelt, gleichsetzt, markiert er sein literarisches Sprechen als eines, das gleichsam aus dem Tod heraus erfolgt. Es ist der Mensch jenseits des Lebens, der
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, der in den »Erzählungen aus Kolyma« sprechen soll. Damit macht Schalamow den prekären Status des Subjekts im Lager zum Ausgangspunkt seines Erzählens.
    Der Autor dürfe nicht bloß Augen- oder Ohrenzeuge der Geschehnisse sein, sondern müsse diese buchstäblich durchlebt, physisch »durchlitten« haben. Auf diese Weise, so Schalamow, sei jede

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