Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
»Sie
können
im Gefängnis sitzen, Sie können es.« Schalamow bezeichnet ihn, obgleich er das nicht der historischen Wahrheit entspricht, nicht nur als Mitglied, sondern als Generalsekretär der in der Sowjetunion bis Anfang der dreißiger Jahre zugelassenen Vereinigung der politischen
katorga
-Häftlinge und Verbannten. In anderen Erzählungen verbirgt sich hinter dem Namen Andrejew das autobiographische Erzähler-Ich Warlam Schalamows.
Unterschiedlich gewertet werden werden auch Ungenauigkeiten bei historischen Fakten aus der Geschichte des GULag-Systems oder widersprüchliche Darstellungen ein und desselben Ereignisses in verschiedenen Erzählungen – sei es z.B. die Frage nach der unmittelbaren Beteiligung Garanins, eines der Leiter des Dalstroj, an den Massenerschießungen an der Kolyma von 1938, sei es die Frage, ob sich die Ereignisse während einer Razzia zu Schalamows Zeit im Lagerkrankenhaus wirklich so abgespielt haben wie in der gleichnamigen Erzählung beschrieben (»Die Razzia«, 1965) oder sei es auch der für das weitere Schicksal des Ich-Erzählers entscheidende Wegfall des Buchstabens »T« (für »trotzkistisch«) in der Urteilsbegründung nach dem Prozess von 1943. Das Urteil wurde als Buchstabenfolge kodiert, wobei das T in KRTD – für »konterrevolutionär-trotzkistische Tätigkeit« – die Lage des Verurteilten erschwerte und u.a. zur Folge hatte, dass er nach der Entlassung aus dem Lager keinen Pass ausgehändigt bekam.
Schalamow war Schriftsteller und kein Historiker. Die (vermeintlichen) Ungenauigkeiten, Widersprüchlichkeiten oder Fehlleistungen seines Gedächnisses sind nicht so sehr als Produkte einer schöpferischen Phantasie zu lesen, die den fehlenden Zugang zu historischen Dokumenten über die Geschichte des GULag kompensieren musste. Schalamows jeweilige literarische Version, sein Umgang mit einzelnen Fakten ist stets einer spezifischen künstlerischen Aufgabe untergeordnet und zielt immer auf das »Detail als Symbol«, das dem Leser einen Überschuss an Deutungspotenzial bieten soll. Ob sich der reale Schalamow angesichts einer Razzia seinerzeit wirklich eigenmächtig aus dem Krankenhaus entfernt hatte oder ob er rechtzeitig von jemandem gewarnt und geschützt wurde, ist für die Komposition einer Erzählung, die die Abhängigkeit des Einzelnen von Zufällen im Lager zeigt, letztlich nicht von entscheidender Bedeutung. Die biographische Ungenauigkeit in Bezug auf den Sozialrevolutionär Andrejew, dem eine herausragendere Position innerhalb der Bewegung der ehemaligen Polithäftlinge der Zarenzeit zugeschrieben wird, ist auch als Versuch zu deuten, ihn als eine Art symbolischer Vorbildfigur aufzuwerten. Nicht zufällig wählt er den Nachnamen Andrejew als
alter ego
in zahlreichen Erzählungen, wie u.a. in »Die Juristenverschwörung«, »Typhusquarantäne«, »Juni« (1959), »Mai« (1959).
Die auffallenden poetologischen Eigenheiten der »Erzählungen aus Kolyma« zeugen in erster Linie von der Fähigkeit Schalamows, ein Textgewebe zu schaffen, das der von Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit gekennzeichneten Situation des einzelnen Häftlings in der Lagerwelt adäquat ist und doch – thematisch wie durch die Formgebung – von der grundsätzlichen Überwindbarkeit des Todes kündet. Dieses ausgeprägte Formbewusstsein, von Jelena Wolkowa prägnant als »Katharsis der Form« bezeichnet, manifestiert einen ästhetischen wie menschlichen Sieg Schalamows.
Der Autor der »Erzählungen aus Kolyma« war sich seiner künstlerischen Leistung bewusst, verteidigte insbesondere die innere Geschlossenheit und Durchdachtheit aller Zyklen. Die öffentliche Anerkennung aber blieb Schalamow in der Sowjetunion wie im Westen versagt. Als Autor von Lagerliteratur stand er zeitlebens im Schatten Aleksandr Solshenizyns, dessen künstlerisches Aufklärungsbuch über das Stalinsche Lagersystem »Der Archipel Gulag« insbesondere nach der 1974 erfolgten Ausweisung Solshenizyns aus der Sowjetunion weltweite Beachtung fand. Da der GULag aus der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur ausgeblendet wurde, konnte Schalamow in seiner Heimat ausschließlich als Autor einiger schmaler, von der Zensur entstellter Gedichtbände in Erscheinung treten, während sein Hauptwerk, die »Erzählungen aus Kolyma«, unveröffentlicht blieb. Schalamow war auf die Kommunikation mit jenen angewiesen, denen er vertraute und seine Manuskripte zu lesen gab. Mit diesem Schritt aber traten die Texte in die
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