Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Blumenbeet konnte niemand abstecken. Zwei Tage vor der Eröffnung überwand Tkatschuk seine Eigenliebe und bat Nowikow – er befahl nicht, er riet nicht, sondern bat.
Auf die Bitte des Chefs des Lagerpunkts reagierte Nowikow so:
»Es kommt gar nicht in Frage, dass ich auf Ihre Bitte im Lager irgendetwas tue. Aber um Ihnen herauszuhelfen, schlage ich Ihnen eine Lösung vor. Bitten Sie Ihren Feldscher, dass er es mir sagt – und in etwa einer Stunde ist alles fertig.«
Dieses ganze Gespräch mit den entsprechenden schmutzigen Flüchen an Nowikows Adresse wurde mir von Tkatschuk wiedergegeben. Ich überlegte und bat Nowikow, das Lager abzustecken. Nach etwa zwei Stunden war alles fertig, und das Lager glänzte vor Sauberkeit. Die Beete waren umgegraben, die Blumen gesetzt, der Lagerpunkt eröffnet.
Nowikow verließ Baragon mit der allerletzten Etappe des Winters dreiundfünfzig-vierundfünfzig.
Vor der Abreise sahen wir uns.
»Ich wünsche Ihnen, von hier wegzufahren, tatsächlich freigelassen zu werden«, sagte mir der Mann, der sich selbst befreit hatte. »Es geht darauf hin, ich versichere Sie. Viel würde ich dafür geben, Sie irgendwo in Minsk oder in Moskau zu treffen.«
»Das sind alles Dummheiten, Michail Iwanowitsch.«
»Nein, nein, keine Dummheiten. Ich bin Prophet. Ich ahne es, ich ahne Ihre Freilassung voraus!«
Drei Monate später war ich in Moskau.
<1972>
Franziska Thun-Hohenstein »Die Kraft des Authentischen«
»Ich schreibe Gedichte seit meiner Kindheit, in meiner Jugend wollte ich Shakespeare werden oder, zumindest, Lermontow und war überzeugt, die Kraft dafür zu besitzen«, vermerkte Warlam Schalamow am 5. August 1964 in einem Brief an Boris Lesnjak, einen ehemaligen Arzthelfer, mit dem er seit der gemeinsamen Zeit im Lager befreundet war: »Der Hohe Norden, genauer gesagt, das Lager, denn der Norden erschien mir nur in seiner Lager-Gestalt, hat alle meine Vorsätze zunichte gemacht. Der Norden verstümmelte, verarmte, verengte, verunstaltete meine Kunst und hinterließ in der Seele nur großen Zorn, dem ich mit den Überresten meiner schwächer werdenden Kräfte diene. Darin und nur darin liegt die Bedeutung des Hohen Nordens für mein Schaffen. Das Lager an der Kolyma ist (wie jedes Lager) eine negative Schule von der ersten bis zur letzten Stunde. Der Mensch sollte, um Mensch zu sein, das Lager nicht kennen und sogar nicht einmal sehen. Der Norden hat mir keinerlei Geheimnisse der Kunst eröffnet.« Kaum zu überhören sind die bitteren Untertöne Schalamows im Rückblick auf den eigenen schriftstellerischen Werdegang nach fast vierzehn Jahren Lagerhaft in der fernöstlichen Kolyma-Region.
Genau vierzig Jahre war es her, dass der siebzehnjährige, als Sohn eines orthodoxen Priesters in der nordrussischen Provinzstadt Wologda aufgewachsene Warlam Schalamow (1907-1982) nach Moskau aufgebrochen war, um »den Himmel zu erstürmen«. Moskau, die Hauptstadt, schien ihm alle Wege zu öffnen, um am revolutionären Aufbruch in eine neue Welt teilhaben zu können, sei es durch die, wie er hoffte, bei Künstlern der linken Avantgarde erlernbare Schärfung des eigenen Dichterwortes, sei es durch politisches Handeln.
Doch auf die Euphorie folgte die Ernüchterung: Führende Vertreter der »Linken Front der Künste« (LEF) wie Wladimir Majakowskij oder Ossip Brik weckten in ihm Zweifel an der Notwendigkeit von Dichtung. Und Sergej Tretjakow, der Begründer der »Literatur des Faktums«, der die operative, unmittelbar ins Leben eingreifende Kraft der literarischen Skizze favorisierte, schürte diese Zweifel noch. Im Rückblick schrieb Schalamow, er sei wegen seiner eigenen Widerspenstigkeit, aber auch weil »ihm die Gedichte leid getan« hätten, nicht mehr lange zu den Treffen bei Tretjakow gegangen. Befreit vom »geistigen Joch« der »Literatur des Faktums« habe er »voller Zorn« Gedichte geschrieben, über den Regen, die Sonne, kurz über alles, was die LEF ablehnte. Niemand aber habe seine Gedichte drucken wollen. Auch seine politischen Aktivitäten, die ihn in die Reihen der linken Opposition führten, hatten für den Studenten des »sowjetischen Rechts« ein gänzlich anderes als das erhoffte Resultat: Er wurde denunziert, 1928 aus der Universität ausgeschlossen, später verhaftet und wegen »konterrevolutionärer Agitation und Organisation« zu drei Jahren Lagerhaft im Nordural verurteilt (1929-1931); 1931 kehrte er nach Moskau zurück, arbeitete als Journalist, schrieb Reportagen
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