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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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brachte, hatte man nur die Haftzeit geändert, sodass noch ein paar Monate bis zum Eintritt in die Freiheit blieben. Nowikow nahm die Papiere nicht entgegen und unterschrieb nichts.
    Die Vertreter der Kommission sagten Nowikow, er solle den Bescheid über die Neuberechnung seiner Haftzeit nicht zurückweisen. Man werde ihn in der Verwaltung revidieren und, falls man einen Fehler gemacht hat, den Fehler korrigieren. An diese Möglichkeit wollte Nowikow nicht glauben. Er nahm die Papiere nicht an und reichte seinerseits Einspruch ein, er wurde von einem Juristen geschrieben, seinem Minsker Landsmann Blumstejn, mit dem Nowikow durch das Weißrussische Gefängnis und das Lager an der Kolyma gegangen war. In der Baragoner Baracke schliefen sie auch gemeinsam und, wie die Ganoven sagen, »aßen aus demselben Napf«. Einen Einspruch mit eigener Berechnung der eigenen Haftzeit und der eigenen Möglichkeiten.
    So blieb Nowikow in der entvölkerten Baragoner Baracke, mit dem Beinamen eines Dummkopfs, der der Leitung nicht glauben will.
    Derartige Einsprüche von erschöpften, müden Leuten im Moment einer aufgekommenen Hoffnung sind eine extreme Seltenheit an der Kolyma und überhaupt in den Lagern.
    Nowikows Eingabe wurde nach Moskau geschickt. Selbstverständlich! Seine juristischen Kenntnisse und das Ergebnis dieser Kenntnisse konnte nur Moskau anfechten. Das wusste auch Nowikow.
    Ein trüber blutiger Strom ergoss sich über die Erde der Kolyma, über die Trassen, und drängte ans Meer, nach Magadan, in die Freiheit des Großen Landes. Ein anderer trüber Strom drängte über die Lena und stürmte die Anleger, Flugplätze, Bahnhöfe Jakutiens, Ost- und Westsibiriens, ergoss sich bis Irkutsk, bis Nowossibirsk und strömte weiter aufs Große Land und verschmolz mit den trüben, ebenso blutigen Wellen der Magadaner und Wladiwostoker Ströme. Die Ganoven veränderten das Klima der Städte – in Moskau raubten sie ebenso leicht wie in Magadan. Nicht wenige Jahre wurden darauf verwendet, nicht wenig Menschen kamen um, bis die trübe Welle zurück hinter Gitter gedrängt war.
    Tausende neue »Latrinenparolen« krochen in die Lagerbaracken, eine fürchterlicher und phantastischer als die andere.
    Mit Kurierpost kam aus Moskau über Magadan nicht eine Latrinenparole – Latrinenparolen kommen selten mit der Kurierpost –, sondern ein Dokument über die vollständige Befreiung Nowikows.
    Nowikow bekam seine Papiere, verspätet selbst zum Torschluss der Amnestie, und wartete auf eine Fahrgelegenheit, voller Angst vor dem bloßen Gedanken, er könne denselben Weg gehen wie Blumstejn.
    Nowikow saß jeden Tag bei mir auf dem Liegebett im Ambulatorium und wartete, wartete …
    Zu dieser Zeit hatte Tkatschuk erstmals nach der verheerenden Amnestie Nachschub von Leuten erhalten. Das Lager wurde nicht geschlossen, es vergrößerte sich sogar und wuchs. Unserem Baragon wurde eine neue Unterbringung zugewiesen, eine neue Zone, in der Baracken errichtet wurden, und also auch eine Wache, Wachtürme, ein Isolator und ein Platz für das Ausrücken zur Arbeit. Am Torgiebel war schon die offiziell übliche Losung angeschlagen: »Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums.«
    An Arbeitskräften gab es soviel man wollte, die Baracken waren aufgestellt, doch das Herz des Chefs des Lagerpunkts war bedrückt: es gab kein Beet, es gab keinen Rasen mit Blumen. Alles war bei der Hand – Gras, Blumen, Rasen und Latten für den Vorgarten, es gab nur keinen Menschen, der Beete und Rasen abstecken konnte. Und ohne Beete und Rasen, ohne Lagersymmetrie – was ist denn das für ein Lager, und sei es auch dritter Klasse. Baragon war von Magadan, Sussuman, Ust Nera weit entfernt.
    Doch auch die dritte Klasse verlangt nach Blumen und Symmetrie.
    Tkatschuk befragte jeden einzelnen Lagerinsassen, fuhr in den benachbarten Lagerpunkt – nirgends gab es einen Menschen mit Ingenieurausbildung, einen Techniker, der Rasen und Beet ohne Nivellierinstrument abstecken konnte.
    So ein Mensch war Michail Iwanowitsch Nowikow. Aber Nowikow, tief gekränkt, wollte nicht einmal zuhören. Tkatschuks Befehle waren für ihn schon keine Befehle mehr.
    Tkatschuk, in der grenzenlosen Gewissheit, dass ein Häftling alles vergisst, bot Nowikow an, das Lager abzustecken. Doch das Gedächtnis des Häftlings merkte sich viel mehr, als der Chef des Lagerpunkts gedacht hatte.
    Der Tag der »Inbetriebnahme« des Lagers rückte näher. Das

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