Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Körper, auf dessen Haut alle Falten geglättet, alle Runzeln verschwunden waren – alles war verstanden, alles erzählt, alles erklärt. Peters hatte tagelang geschwiegen, aus Angst, eine überflüssige Bewegung zu machen – seine Druckgeschwüre rochen, stanken schon. Und nur die weißlichen Augen folgten aufmerksam dem Arzt, Doktor Jampolskij, wenn er den Krankensaal betrat. Doktor Jampolskij, der Chef der Sanitätsabteilung, war kein Doktor. Er war auch kein Feldscher. Doktor Jampolskij war einfach ein Zuträger und Flegel, der sich mit Anzeigen den Weg gebahnt hatte. Aber Peters wusste das nicht und ließ in seinen Augen Hoffnung aufscheinen.
Wer Doktor Jampolskij kannte, war Rjabokon, schließlich war Rjabokon ein ehemaliger Freier. Aber Rjabokon hasste Peters wie Jampolskij gleichermaßen und schwieg böse.
Rjabokon sah nicht aus wie eine Wasserleiche. Riesig, knochig, mit ausgedorrten Sehnen. Die Matratze war kurz, die Decke bedeckte nur die Schultern, aber Rjabokon war alles egal. Aus seinem Bett hingen Füße von Gulliver-Maßen, und die gelben knochigen Fersen, Billardkugeln ähnlich, klopften auf dem Rundholzboden, wenn Rjabokon losging, um sich zu bücken und den Kopf aus dem Fenster zu strecken – die knochigen Schultern konnte er nicht nach außen, zum Himmel, in die Freiheit durchdrängen.
Doktor Jampolskij erwartete den Tod des Letten von Stunde zu Stunde – solche Distrophiker sterben schnell. Aber der Lette klammerte sich an das Leben und erhöhte die durchschnittlichen Liegetage. Auf den Tod des Letten wartete auch Rjabokon. Peters lag auf dem einzigen langen Liegebett im Krankenhaus, und nach dem Letten hatte Doktor Jampolskij dieses Bett Rjabokon versprochen. Rjabokon atmete am Fenster, ohne sich vor der kalten berauschenden Frühlingsluft zu fürchten, er atmete mit der ganzen Brust und dachte, wie er sich in Peters’ Bett legen wird, wenn Peters tot ist, und die Füße wenigstens für ein paar Tage wird ausstrecken können. Er muss sich nur hinlegen und ausstrecken – dann ruhen sich irgendwelche wichtigen Muskeln aus, und Rjabokon wird leben.
Die Visite war beendet. Zum Behandeln war nichts da – Permangansäure und Jod wirkten Wunder sogar in Jampolskijs Händen. Zum Behandeln war nichts da, und Jampolskij hielt durch und sammelte Erfahrungen und Berufsjahre. Tode legte man ihm nicht zur Last. Und wurden Tode überhaupt jemandem zur Last gelegt?
»Heute machen wir dir ein Bad, ein warmes Bad. Gut?«
Erbitterung flimmerte in Peters’ weißlichen Augen, aber er sagte, er flüsterte nichts.
Vier Krankensanitäter und Doktor Jampolskij drückten Peters’ riesigen Körper in ein hölzernes Solidol-Fass, das mit Dampf und Wasser gereinigt war.
Doktor Jampolskij merkte sich die Zeit auf der Armbanduhr – ein Geschenk an den beliebten Doktor von den Ganoven aus dem Bergwerk, in dem Jampolskij vorher gearbeitet hatte, vor dieser steinernen Mausefalle.
Nach fünfzehn Minuten begann der Lette zu röcheln. Die Sanitäter und der Doktor zogen den Kranken aus dem Fass und schleppten ihn auf die Liege, auf die lange Liege. Der Lette sagte deutlich:
»Wäsche! Wäsche!«
»Was für Wäsche?«, fragte Doktor Jampolskij. »Wäsche haben wir keine.«
»Er bittet bestimmt um ein Totenhemd«, erriet Rjabokon.
Und auf Peters’ zitterndes Kinn starrend, auf die halbgeschlossenen Augen und die über den Körper tastenden aufgedunsenen blauen Finger, dachte Rjabokon, dass Peters’ Tod sein, Rjabokons, Glück war, nicht nur wegen der langen Liege, sondern auch, weil Peters und er alte Feinde waren – sie hatten sich in den Gefechten irgendwo bei Schepetowka getroffen.
Rjabokon war Machno-Mann. Sein Traum wurde wahr – er legte sich in Peters’ Bett. Und in Rjabokons Bett legte ich mich – und schreibe diese Erzählung.
Rjabokon sputete sich, zu erzählen, er sputete sich, zu erzählen, und ich sputete mich, es mir zu merken. Wir kannten uns beide aus mit dem Tod wie dem Leben.
Wir kannten das Gesetz der Memoirenschreiber, ihr wichtigstes, ihr Grundgesetz: Recht hat, wer später schreibt, wer den Strom der Zeugen überlebt, durch ihn hindurchgeht und sein Urteil mit der Miene eines Menschen spricht, der im Besitz der absoluten Wahrheit ist.
Suetons Geschichte der zwölf Kaiser gründet auf etwas Subtilem – auf grober Schmeichelei für die Zeitgenossen und den Verstorbenen nachgeschickten Verwünschungen, auf die niemand von den Lebenden reagiert.
»Glaubst du, Machno war Antisemit?
Weitere Kostenlose Bücher