Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Bergwerkschef mit den Abschnittschefs sprechen? In schmutzigen Flüchen. Aber das sind noch die Festlands-Flüche. Der Abschnittschef rüffelt seine Einsatzleiter, Brigadiere und Meister schon mit den Ganovenflüchen von der Kolyma. Und was soll dann der Meister, der Brigadier noch tun? Einen Stock nehmen und die Arbeiter dreschen. Stimmts oder nicht?«
»Stimmt, Genosse Natschalnik«, sagte der Major.
»Auf derselben Beratung hat Nikischow gesprochen. Er sagt, ihr seid neu, ihr kennt die Kolyma nicht, hier herrschen besondere Bedingungen, eine besondere Moral. Aber ich habe ihm gesagt: Wir sind zum Arbeiten hergekommen, und wir werden arbeiten, bloß wir werden nicht so arbeiten, wie Nikischow sagt, sondern so, wie der Genosse Stalin sagt.«
»Stimmt, Genosse Natschalnik«, sagte der Major. Die Kranken hörten, dass die Sache bis zu Stalin ging, und verstummten völlig.
Hinter der Tür traten die Abteilungsleiter von einem Fuß auf den anderen, man hatte sie schon aus den Wohnungen herbeigerufen, dort stand der Krankenhauschef und wartete auf das Ende der Rede des hohen Natschalniks.
»Wahrscheinlich setzen sie Nikischow ab«, mutmaßte Bajkow, der Leiter der zweiten inneren Abteilung, aber er wurde angezischt und war still.
Der Chef der Politverwaltung trat aus dem Krankensaal und begrüßte die Ärzte per Handschlag.
»Ich bitte zum Imbiss«, sagte der Krankenhauschef. »Das Mittagessen steht auf dem Tisch.«
»Nein, nein.« Der Chef der Politverwaltung sah auf die Uhr. »Ich muss fahren, noch vor der Nacht in der Westlichen, in Sussuman ankommen. Morgen ist Beratung. Übrigens … Nur kein Mittagessen. Folgendes. Geben sie mir meine Aktentasche.« Der weißhaarige Chef nahm die schwere Aktentasche aus den Händen des Majors entgegen. »Können Sie mir Glukose geben?«
»Glukose?«, sagte der Krankenhauschef und begriff nicht.
»Nun ja, Glukose. Eine Injektion in die Vene. Ich trinke ja keinerlei Alkohol von Kind auf … Rauche nicht. Aber jeden zweiten Tag lasse ich mir Glukose geben. Zwanzig Kubik Glukose intravenös. Das hat mir mein Arzt schon in Moskau empfohlen. Und was glauben Sie? Das Beste für den Tonus. Besser als aller Ginseng, alle Testosterone. Ich habe immer Glukose bei mir. Aber Spritzen habe ich nicht dabei – die Injektion macht mir jedes Krankenhaus. Geben Sie mir also eine Injektion.«
»Ich kann das nicht«, sagte der Krankenhauschef. »Ich halte lieber den Schlauch. Hier der Chirurg vom Dienst – der hat alle Trümpfe in der Hand.«
»Nein«, sagte der Chirurg vom Dienst, »ich kann das auch nicht. Solche Spritzen, Genosse Natschalnik, gibt nämlich nicht jeder Arzt.«
»Dann der Feldscher.«
»Wir haben keine freien Feldscher.«
»Und er hier?«
»Das ist ein Häftling.«
»Sonderbar. Na, ganz egal. Kannst du es machen?«
»Ja«, sagte ich.
»Koch die Spritze ab.«
Ich kochte eine Spritze ab und ließ sie abkühlen. Der weißhaarige Chef zog ein Kästchen mit der Glukose aus der Aktentasche, und der Krankenhauschef schüttete sich Alkohol über die Hände, schlug gemeinsam mit dem Partorg die Ampulle auf und zog die Glukoselösung in die Spritze. Der Krankenhauschef setzte eine Nadel auf die Spritze, gab mir die Spritze in die Hand, nahm einen Gummischlauch und band den Arm des hohen Chefs ab; ich verabreichte die Glukose und drückte ein Stückchen Watte auf die Einstichstelle.
»Ich habe Venen wie ein Verladearbeiter«, scherzte der Chef wohlwollend mit mir.
Ich schwieg.
»So, ich habe mich erholt, und jetzt muss ich fahren.« Der weißhaarige Chef stand auf.
»Und auf die Innere?«, sagte der Krankenhauschef, der fürchtete, wenn die Gäste zurückkehren zur Untersuchung der Kranken auf der Inneren, einen Verweis zu bekommen, dass er nicht rechtzeitig daran erinnert hat.
»Auf der Inneren haben wir nichts zu tun«, sagte der Chef der Politverwaltung. Unsere Fahrt hat ein bestimmtes Ziel.«
»Und das Mittagessen?«
»Keinerlei Mittagessen. Die Arbeit geht vor.«
Das Fahrzeug hupte, und der Wagen des Chefs der Politverwaltung verschwand im Frostnebel.
<1967>
Rjabokon
Rjabokons Nachbar im Krankensaal – auf einem Gestell mit einer mit Krummholzzweigen gestopften Matratze – war Peters, ein Lette, der sich, wie alle Letten, an sämtlichen Fronten des Bürgerkriegs geschlagen hatte. Die Kolyma war für Peters die letzte Front. Der riesige Körper des Letten sah aus wie eine Wasserleiche – blau-weiß und aufgedunsen, aufgeblasen vom Hunger. Ein junger
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