Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
schlaflosen Nächte, die einen zusätzlichen Talon fürs Mittagessen brachten. Und wie man Krist sofort verkaufte, »abschob«, sich an einen hauptamtlichen Buchhalter von den
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wandte und auf Krists Kragen zeigte, auf dem eine Laus, hungrig wie Krist, hervorkroch. Eine Laus, so blass wie Krist. Und wie Krist im selben Moment von einer eisernen Hand aus dem Kontor gezogen und auf die Straße gesetzt wurde.
Ja, es wäre besser, die Feldbluse zu waschen.
»Du schläfst, und ich wasche sie. Ein Stückchen Brot, und wenn du kein Brot hast, dann so.«
Krist hatte kein Brot. Aber auf dem Grund seiner Seele schrie jemand, dass man hungrig bleiben und das Hemd trotzdem waschen müsste. Und Krist hörte auf, sich dem fremden, schrecklichen Willen eines hungrigen Menschen zu widersetzen.
Krist schlief, wie immer, nicht tief, sondern bewusstlos.
Vor einem Monat, als Krist noch nicht im Krankenhaus lag, sondern in der riesigen Menge der
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taumelte – von der Kantine zum Ambulatorium, vom Ambulatorium zur Baracke im weißen Nebel der Lagerzone –, war ein Unglück geschehen. Man hatte Krist den Tabaksbeutel gestohlen. Den leeren Beutel natürlich. Schon seit Jahren war keinerlei Machorka im Tabaksbeutel. Aber im Tabaksbeutel bewahrte Krist – weshalb? – die Photographien und Briefe seiner Frau auf, viele Briefe. Viele Photographien. Und obwohl Krist diese Briefe niemals wieder las und die Photographien nicht anschaute – das war zu hart –, hob er dieses Päckchen, wahrscheinlich für bessere Zeiten, auf. Es war schwer zu erklären, warum Krist diese Briefe, in großer Kinderschrift geschrieben, auf all seinen Häftlingswegen herumtrug. Bei Durchsuchungen wurden die Briefe nicht eingezogen. Eine Menge Briefe hatte sich angesammelt im Tabaksbeutel. Und jetzt war der Tabaksbeutel gestohlen. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, dass Geld darin ist, dass zwischen den Photos irgendwo ein ganz dünner Rubel liegt. Es gab nicht einen Rubel … Krist fand diese Briefe niemals wieder. Nach den bekannten Regeln beim Diebstahl, an die man sich in Freiheit hält, an die sich die Ganoven halten und Leute, die die Ganoven nachahmen, muss man Papiere in einen Müllkübel stecken und Photos mit der Post schicken oder auf eine Müllgrube werfen. Aber Krist wusste, dass diese Reste von Menschlichkeit in der Welt der Kolyma komplett ausgerottet sind. Die Briefe wurden natürlich an irgendeinem Feuer oder im Lagerofen verbrannt, damit die Flamme plötzlich hell aufscheint – die Briefe wird man ihm natürlich nicht zurückgeben, nicht zustecken. Aber die Photographien, wozu die Photographien?
»Du wirst sie nicht finden«, sagte sein Nachbar zu Krist. »Die Ganoven haben sie genommen.«
»Aber wozu denn?«
»Ach du! Eine Frauenphotographie?«
»Na ja.«
»Eben für die Séance.«
Und Krist hörte auf zu fragen.
Im Tabaksbeutel hatte Krist die alten Briefe aufbewahrt. Den neuen Brief aber und das Photo – ein neues kleines Passphoto – bewahrte er in der linken, einzigen Tasche der Feldbluse auf.
Krists schlief, wie immer, nicht tief, sondern bewusstlos. Und er wachte auf mit dem Gefühl: Heute muss etwas Gutes kommen. Krist überlegte nicht lange. Das saubere Hemd! Krist schwang die schweren Beine von der Liegebank und ging in die Küche. Der Kranke von gestern empfing Krist.
»Ich trockne es, trockne es. Auf dem Ofen trockne ich es.«
Plötzlich überlief Krist kalter Schweiß.
»Und der Brief?«
»Was für ein Brief?«
»In der Tasche.«
»Ich habe die Taschen nicht aufgeknöpft. Darf ich denn Ihre Taschen aufknöpfen?«
Krist streckte die Hände nach dem Hemd aus. Der Brief war heil, der feuchte, nasse Brief. Die Feldbluse war fast trocken, der Brief aber war nass, mit Spuren von Wasser oder Tränen. Die Photographie war verwaschen, verwischt, entstellt und erinnerte nur in den allgemeinen Zügen an das Krist bekannte Gesicht.
Die Buchstaben des Briefs waren verwischt, verwaschen, aber Krist kannte den ganzen Brief auswendig und konnte jeden Satz lesen.
Das war der letzte Brief von seiner Frau, den Krist bekommen hatte. Er trug diesen Brief nicht lange mit sich herum. Die Worte dieses Briefs verblichen bald endgültig, lösten sich auf, und auch den Text wusste Krist nicht mehr genau. Photo und Brief waren bald vollständig verwischt, zerfallen, verschwunden nach einer besonders gründlichen Desinfektion auf dem Feldscherlehrgang in Magadan, der Krist zu einer wahren und nicht erfundenen
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