Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
sich niemand.
Ein Monat, ein Jahr, zehn Jahre, zwanzig Jahre – all diese Haftzeiten sind beinahe gleich nach den Maßstäben der Kolyma, nach der Moral des Nordens.
Es endete so, wie all diese Dinge enden. Irgendein Zank, ein Streit, eine falsche Verteilung der Beute. Verlust der Autorität beim Ataman – dem Buchhalter. Der Buchhalter hatte irgendwelche falschen Angaben gemacht, einen Fehler. Gerichtsverhandlung. Fünfundzwanzig plus fünf, Aberkennung der bürgerlichen Rechte. Damals wurde für Mord nicht erschossen.
In dieser Gruppe gab es keinen einzigen Berufsverbrecher. Alle waren gewöhnliche
frajer
. Auch Rjabokon war einer. Die seelische Bereitschaft zum Morden hatte er durch sein Leben getragen seit Guljaj-Pole .
1966
Die Vita des Ingenieurs Kiprejew
Viele Jahre dachte ich, dass der Tod eine Form des Lebens ist, und beruhigt durch das Fließende dieser Sicht entwickelte ich eine Formel der aktiven Verteidigung meines Existierens auf dieser traurigen Erde.
Ich dachte, dass der Mensch sich dann für einen Menschen halten kann, wenn er jeden Moment mit seinem ganzen Körper fühlt, dass er bereit ist sich umzubringen, bereit ist, sich selbst in die eigene Vita einzumischen. Dieses Bewusstsein gibt auch den Willen zum Leben.
Ich prüfte mich viele Male, und die Kraft zum Tod spürend blieb ich am Leben.
Viel später begriff ich, dass ich mir einfach eine Zuflucht gebaut hatte, der Frage ausgewichen war, denn im Moment der Entscheidung werde ich nicht derselbe sein wie jetzt, wo Leben und Tod ein Spiel des Willens sind. Ich werde schwächer werden, mich verändern, mich verraten. Ich hörte auf, an den Tod zu denken, aber spürte, dass die frühere Lösung eine andere Antwort erfordert, dass das Versprechen an mich selbst, die Schwüre der Jugend zu naiv und sehr relativ sind.
Davon überzeugte mich die Geschichte von Ingenieur Kiprejew.
Ich habe im Leben niemanden verraten, verkauft. Aber ich weiß nicht, wie ich durchgehalten hätte, wenn man mich geschlagen hätte. Ich bin sehr glücklich durch all meine Untersuchungen gekommen – ohne Schläge, ohne Methode Nummer drei. Meine Untersuchungsführer haben mich in all meinen Untersuchungsverfahren mit keinem Finger angerührt. Das ist ein Zufall, nicht mehr. Ich bin einfach früh durch das Untersuchungsverfahren gegangen – in der ersten Hälfte des Jahres siebenunddreißig, als noch keine Folter angewandt wurde.
Ingenieur Kiprejew aber wurde 1938 verhaftet, und der ganze fürchterliche Umstand des Schlagens während der Untersuchung war ihm bekannt. Er hielt diesen Schlägen stand, als man ihn schlug, stürzte er sich auf den Untersuchungsführer und wurde in den Karzer gesetzt. Doch die geforderte Unterschrift bekamen die Untersuchungsführer von Kiprejew leicht: Sie machten ihm Angst mit der Verhaftung seiner Frau, und Kiprejew unterschrieb.
Diesen schrecklichen moralischen Schlag trug Kiprejew durchs ganze Leben. Im Häftlingsleben fehlt es nicht an Erniedrigungen und Zerstörungen. In den Tagebüchern der Menschen der russischen Freiheitsbewegung gibt es ein schreckliches Trauma – das Gnadengesuch. Das galt als Schande vor der Revolution, als ewige Schande. Auch nach der Revolution lehnte die Vereinigung der politischen
katorga
-Häftlinge und Verbannten strikt die Aufnahme von sogenannten »Ansuchern« ab, das heißt von Leuten, die irgendwann aus irgendeinem Anlass den Zaren um Befreiung, um Milderung der Strafe gebeten hatten.
In den dreißiger Jahren wurde nicht nur den »Ansuchern« alles verziehen – sogar Leuten, die gegen sich und andere eine offenkundige, eine manchmal blutige Lüge unterschrieben hatten, verzieh man.
Die lebendigen Vorbilder sind längst alt geworden, sind längst umgekommen im Lager und in der Verbannung, und wer gesessen und die Untersuchung durchlaufen hat, waren alles »Ansucher«. Darum wusste auch niemand, zu welchen moralischen Foltern sich Kiprejew verurteilte, als er ans Ochotskische Meer fuhr, nach Wladiwostok, nach Magadan.
Kiprejew war Physikingenieur aus eben jenem Charkower Physikalischen Institut, in dem man als erstes in der Sowjetunion zur Kernreaktion kam. Dort arbeitete auch Kurtschatow . Das Charkower Institut entging der Säuberung nicht. Eines der ersten Opfer in unserer Atomwissenschaft war Ingenieur Kiprejew.
Kiprejew war sich seines Werts bewusst. Aber seine Chefs waren sich Kiprejews Werts nicht bewusst. Dabei zeigte sich, dass moralische Standfestigkeit wenig mit Talent, mit
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