Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
wissenschaftlicher Erfahrung, sogar mit wissenschaftlicher Leidenschaft zu tun hat. Das waren unterschiedliche Dinge. Vom Prügeln während der Untersuchung wissend, bereitete sich Kiprejew sehr einfach vor – er wird sich verteidigen wie eine Bestie, jeden Schlag mit einem Schlag beantworten, ohne zu unterscheiden, wer der Erfüller und wer der Erschaffer dieses Systems ist, der Methode Nummer drei. Kiprejew wurde geprügelt und in den Karzer geworfen. Alles begann von vorn. Die physischen Kräfte versagten, und gleich nach der physischen versagte auch die seelische Festigkeit. Kiprejew unterschrieb. Man hatte ihm mit der Verhaftung seiner Frau gedroht. Kiprejew war eine solche Schwäche, die Tatsache, dass bei der Begegnung mit der groben Kraft er, der Intellektuelle Kiprejew, klein beigegeben hat, maßlos peinlich. Schon damals, im Gefängnis, schwor sich Kiprejew fürs ganze Leben, diesen schändlichen Schritt niemals zu wiederholen. Übrigens, nur Kiprejew selbst erschien sein Handeln als schändlich. Seine Pritschennachbarn hatten genauso unterschrieben und verleumdet. Sie lagen auf den Pritschen und starben nicht. Die Schande kennt keine Grenzen, vielmehr sind die Grenzen immer persönliche, und die Ansprüche an sich selbst sind bei jedem Bewohner der Untersuchungszelle unterschiedlich.
    Mit fünf Jahren Haft kam Kiprejew an die Kolyma, überzeugt, dass er einen Weg zur vorzeitigen Freilassung finden, sich in die Freiheit, aufs Festland wird losmachen können. Natürlich, den Ingenieur wird man zu schätzen wissen. Und der Ingenieur wird sich die Anrechnung von Arbeitstagen, die Freilassung, eine Ermäßigung der Haftzeit verdienen. Kiprejew verabscheute die physische Arbeit im Lager, er begriff schnell, dass nichts als der Tod am Ende dieses Wegs steht. Zu arbeiten, wo er wenigstens eine Spur der Spezialkenntnisse anwenden konnte, die Kiprejew besaß – und er wird freikommen. Und verliert wenigstens nicht die Qualifikation.
    Die Erfahrung der Arbeit im Bergwerk, gebrochene Finger, die in den Schrapper geraten sind, physische Schwäche, sogar Gebrechlichkeit – all das brachte Kiprejew ins Krankenhaus, und vom Krankenhaus in die Etappe.
    Das Unglück war auch noch, dass der Ingenieur es nicht fertigbrachte, nichts zu erfinden, nicht nach wissenschaftlichtechnischen Lösungen zu suchen im Chaos des Lageralltags, in dem der Ingenieur lebte.
    Das Lager aber, die Lagerleitung betrachtete Kiprejew als Sklaven, mehr nicht. Kiprejews Energie, für die er sich selbst tausendmal verwünschte, suchte nach einem Ventil.
    Nur sollte der Einsatz in diesem Spiel eines Ingenieurs, eines Wissenschaftlers würdig sein. Dieser Einsatz war die Freiheit.
    Die Kolyma ist nicht nur darum ein »wundersamer Planet«, weil dort »neun Monate im Jahr« Winter ist. Dort bezahlte man im Krieg hundert Rubel für einen Apfel, und ein Fehler bei der Verteilung der frischen Tomaten, die vom Festland kamen, führte zu blutigen Dramen. All das – sowohl Äpfel als auch Tomaten – war selbstverständlich für die freie, für die Vertragsarbeiterwelt da, zu der der Häftling Kiprejew nicht gehörte. »Wundersamer Planet« nicht nur darum, weil dort »die Tajga Gesetz« ist. Nicht darum, weil die Kolyma Stalins spezielles Vernichtungslager ist. Nicht darum, weil dort ein Defizit an Machorka und
tschifir
-Tee herrscht, weil diese die Währung sind an der Kolyma, ihr wahres Gold, für das man alles bekommt.
    Trotz alledem war das größte Defizit das Glas – Glaswaren, Laborutensilien, Instrumente. Die Sprödigkeit des Glases war gesteigert durch die Fröste, und die »Bruch«-Norm wurde nicht erhöht. Ein einfaches Fieberthermometer kostete um die dreihundert Rubel. Aber einen Schwarzmarkt für Thermometer gab es nicht. Der Arzt muss den Bevollmächtigten der Kreisabteilung von seinem Antrag informieren, denn ein Fieberthermometer ist schwerer zu verstecken als die Gioconda . Aber der Arzt stellte keinerlei Anträge. Er zahlte einfach dreihundert Rubel und brachte das Thermometer von zu Hause mit, um den Schwerkranken das Fieber zu messen.
    An der Kolyma ist eine Konservendose ein Poem. Eine Konservendose aus Blech ist ein Maß, ein bequemes Maß, das immer bei der Hand ist. Es ist ein Maß für Wasser, Graupen, Mehl, Fruchtspeise, Suppe, Tee. Es ist ein Becher für den
tschifir
, darin kann man bequem »ein
tschifir
chen aufkochen«. Dieser Becher ist steril – er ist vom Feuer gereinigt. Tee und Suppe wärmt man, kocht man im Ofen,

Weitere Kostenlose Bücher