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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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seiner Division gejagt wurde.
    Hier war auch Lupilow, der Referent des Generalstaatsanwalts der UdSSR, Referent Wyschinskijs. Shaworonkow, der Lokführer aus dem Sawjolowskij Lokomotivdepot. Und auch ein ehemaliger NKWD-Chef aus der Stadt Gorkij , der während der Etappe einen Streit mit einem seiner »Mündel« begann:
    »Man hat dich geschlagen? Ja und? Du hast unterschrieben – also bist du ein Feind, machst unsere Sowjetmacht irre, störst uns bei der Arbeit. Wegen solchen Scheusalen habe ich auch fünfzehn Jahre bekommen.«
    Ich mischte mich ein:
    »Ich höre dir zu und weiß nicht, was tun – lachen oder dir in die Fresse spucken …«
    Unterschiedliche Leute gab es in dieser »auf Grund laufenden« Brigade … Es gab auch einen Anhänger der Sekte »Gott weiß« , vielleicht hieß die Sekte auch anders – das war einfach die einzige beständige Antwort des Sektierers auf alle Fragen der Leitung.
    Der Name des Sektierers ist mir im Gedächtnis geblieben, natürlich – Dmitrijew –, obwohl der Sektierer selbst niemals darauf reagierte. Die Hände der Kameraden und des Brigadiers bewegten Dmitrijew vom Fleck, stellten ihn in die Reihe, führten ihn.
    Die Begleitposten wechselten häufig, und fast jeder neue Begleitposten versuchte, das Geheimnis der verweigerten Reaktion auf das drohende »
Antworten!
« zu begreifen – beim Abmarsch zum Einsatz zur so genannten Arbeit.
    Der Brigadier erklärte kurz die Umstände, und der erfreute Begleitposten fuhr mit dem Appell fort.
    Den Sektierer waren alle in der Baracke leid. Nachts schliefen wir nicht vor Hunger, wir wärmten uns, wärmten uns am eisernen Ofen, hielten ihn mit den Armen umfasst und fingen die entweichende Wärme des erkaltenden Eisens ein, hielten das Gesicht ans Eisen.
    Selbstverständlich verstellten wir diese klägliche Wärme den übrigen Barackenbewohnern, die – so wie wir, die vor Hunger nicht schliefen – in den fernen, raureifbedeckten Ecken lagen. Von dort, aus diesen fernen dunklen, raureifbedeckten Ecken sprang jemand hervor, der das Recht hatte zu schreien, und sogar auch das Recht zu schlagen, und vertrieb die hungrigen Arbeiter mit Fluchen und Fußtritten vom Ofen.
    Am Ofen durfte man stehen und legal Brot rösten, aber wer hatte Brot, um es zu rösten … Und wie viele Stunden kann man ein Stückchen Brot rösten?
    Wir hassten die Chefs, hassten uns gegenseitig, und am meisten hassten wir den Sektierer – für die Lieder, für die Hymnen, für die Psalmen …
    Wir alle schwiegen, wenn wir den Ofen umarmt hielten. Der Sektierer sang, sang mit heiserer, erkälteter Stimme – nicht laut, aber er sang irgendwelche Hymnen, Psalmen und Verse. Die Lieder waren endlos.
    Ich arbeitete gemeinsam mit dem Sektierer. Die übrigen Bewohner der Sektion erholten sich in der Arbeitszeit vom Hymnen- und Psalmensingen, erholten sich von dem Sektierer, aber ich hatte auch diese Erleichterung nicht.
    »Sei still!«
    »Ich wäre längst tot ohne die Lieder. Ich wäre gegangen – in den Frost. Mir fehlt die Kraft. Hätte ich ein bisschen mehr Kraft. Ich bitte Gott nicht um den Tod. Er sieht alles selbst.«
    Es gab in der Brigade auch andere Leute, die in Lumpen gewickelt waren, genauso schmutzig und hungrig, mit demselben Glanz in den Augen. Wer sind sie? Generäle? Helden des Spanischen Kriegs ? Russische Schriftsteller? Kolchosbauern aus Wolokolamsk?
    Wir saßen in der Kantine und begriffen nicht – warum gibt man uns nichts zu essen, worauf wartet man? Was für eine Neuigkeit wird man verkünden? Für uns konnte eine Neuigkeit nur gut sein. Es gibt eine Grenze, von der an alles, was mit einem Menschen passiert – Glück bedeutet. Eine Neuigkeit kann nur gut sein. Das begriffen alle, begriffen es mit ihrem Körper, nicht mit dem Gehirn.
    Die Klappe des Ausgabefensters öffnete sich von innen, und man brachte uns Näpfe mit Suppe – heiß! Grütze – warm! Und Fruchtspeise, den dritten Gang – beinahe kalt! Jeder bekam einen Löffel, und der Brigadier machte uns darauf aufmerksam, dass wir den Löffel zurückgeben müssen. Natürlich geben wir die Löffel zurück. Wozu brauchen wir einen Löffel? Um ihn gegen Tabak einzutauschen in einer anderen Baracke? Natürlich geben wir die Löffel zurück. Wozu brauchen wir Löffel? Wir sind es längst gewöhnt, über Bord zu essen. Wozu brauchen wir einen Löffel? Was am Grund bleibt, kann man mit dem Finger zum Bord, zum Ausgang schieben …
    Zu denken gab es hier nichts – vor uns stand Essen, Nahrung.

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