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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Kadettenanstalt, vor dem Einschlafen, sah sich Khan-Girej mal als Suworow, wie er die Teufelsbrücke überschreitet, mal als Suworow mit Gartenschere in seinem Garten im Dorf Kontschanskoje. Übrigens, nein. Kontschanskoje bedeutet für Suworow die Ungnade. Khan-Girej aber, erschöpft von den Großtaten zum Ruhm des Mars, züchtet einfach darum Rosen, weil der Moment gekommen, die Zeit reif ist. Nach den Rosen gibt es keinen Mars mehr.
    Dieser schüchterne Traum glomm und glomm immerzu, bis er zur Leidenschaft wurde. Und als er zur Leidenschaft geworden war – begriff Tamarin, dass das Züchten von Rosen die Kenntnis des Bodens und nicht nur von Vergils Gedichten verlangt. Der Blumenzüchter wurde unmerklich zum Gemüsegärtner und Gartenbauer. Khan-Girej verschlang dieses Wissen schnell, lernte leicht. Niemals scheute Tamarin die Zeit für irgendein blumenzüchterisches Experiment. Er scheute keine Zeit, um ein weiteres Lehrbuch des Pflanzenbaus, der Gemüsezucht zu lesen.
    Ja, Blumen und Verse! Das silberne Latein rief zu den Versen der zeitgenössischen Dichter. Aber vor allem – Vergil und die Rosen. Doch vielleicht nicht Vergil, sondern Horaz. Vergil wurde aus irgendeinem Grund von Dante als Führer durch die Hölle gewählt. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Symbol? Ist ein Dichter der ländlichen Freuden ein verlässlicher Führer durch die Hölle?
    Tamarin hat die Antwort auf diese Frage erlebt.
    Noch früher als das Rosenzüchten kam die Revolution – die Februarrevolution , die Wilde Division, der Bürgerkrieg, das Konzentrationslager im Nordural. Tamarin beschloss einen neuen Einsatz in seinem Lebens-Spiel.
    Die Blumen, die Tamarin im Konzentrationslager, in der Landwirtschaft an der Wischera züchtete, wurden mit großem Erfolg auf Ausstellungen in Swerdlowsk gezeigt. Tamarin begriff, dass die Blumen im Norden für ihn der Weg in die Freiheit sind. Seitdem stellte der sauber rasierte alte Mann mit dem geflickten tschekmen auf den Tisch des Direktors von Wischchims und Chefs der Wischera-Lager Eduard Petrowitsch Bersin jeden Tag eine frische Rose.
    Bersin hatte auch schon von Horaz und dem Rosenzüchten gehört. Das humanistische Gymnasium vermittelte diese Kenntnisse. Aber vor allem vertraute Bersin ganz und gar dem Geschmack von Aleksandr Aleksandrowitsch Tamarin. Der alte zaristische General, der jeden Tag eine frische Rose auf den Schreibtisch des jungen Tschekisten stellte. Das war nicht schlecht. Und verlangte Dankbarkeit.
    Bersin, selbst zaristischer Offizier, hatte seinerzeit mit 24 Jahren in der Lockhart-Affäre seinen Lebens-Einsatz auf die Sowjetmacht gesetzt. Bersin verstand Tamarin. Das war nicht Mitleid, sondern die Gemeinsamkeit ihrer Schicksale, die beide für lange verband. Bersin verstand, dass nur durch einen Zufall er selbst im Kabinett des Dalstroj-Direktors und Tamarin mit der Schaufel in der Hand im Gemüsegarten des Lagers stand. Sie waren Männer der gleichen Erziehung, der gleichen Katastrophe. In Bersins Leben hatte es keinerlei Aufklärung und Gegenaufklärung gegeben, bis Lockhart auftauchte und die Notwendigkeit der Wahl.
    Mit vierundzwanzig erscheint das Leben unendlich. Der Mensch glaubt nicht an den Tod. Kürzlich hat man an kybernetischen Maschinen das Durchschnittsalter der Verräter der Weltgeschichte errechnet, von Hamilton bis Wallenrod . Dieses Alter ist vierundzwanzig Jahre. Also war Bersin auch hier ein Mann seiner Zeit … Regimentsadjutant, Fähnrich Bersin … Ein Freizeitmaler, ein Kenner der Barbizon-Schule . Ein Ästhet, wie alle Tschekisten jener Zeit. Übrigens war er noch nicht Tschekist. Die Lockhart-Affäre war der Preis für diesen Rang, Bersins Eintrittsbeitrag in die Partei.
    Ich kam im April an, und im Sommer ging ich zu Tamarin, setzte mit einem besonderen Passierschein über den Fluss. Tamarin wohnte an der Orangerie. Ein Zimmerchen mit einem gläsernen Treibhausdach, der matte, schwere Geruch der Blumen, der Geruch feuchter Erde, Treibhausgurken und Setzlinge, Setzlinge … Aleksandr Aleksandrowitsch sehnte sich nach einem Gesprächspartner. Kein einziger Pritschennachbar Tamarins, kein einziger Gehilfe und Chef konnte die Akmeisten von den Imaginisten unterscheiden.
    Bald begann die Epidemie der »Umschmiedung«. Die Besserungsanstalten wurden an die OGPU übergeben, und die neuen Chefs fuhren nach den neuen Gesetzen in alle vier Himmelsrichtungen und eröffneten immer neue und neue Lagerabteilungen. Das Land überzog sich mit einem dichten

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