Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
war auch Ovidius Naso GULag-Chef. Aber schließlich ist Ovid nicht für seine Arbeit in den Lagern berühmt.
Nehmen wir an, ein Künstler, ein Bildhauer, ein Dichter, ein Komponist kann inspiriert sein von einer Illusion, ergriffen und davongetragen von einer emotionalen Aufwallung und schafft eine Sinfonie, wobei ihn nur der Strom der Farben, der Strom der Töne interessiert. Warum ist dieser Strom trotz allem hervorgerufen von der Figur eines GULag-Chefs?
Warum schreibt der Gelehrte seine Formeln vor demselben GULag-Chef an die Tafel und lässt sich in seinen praktischen Ingenieur-Arbeiten eben von dieser Figur inspirieren? Warum empfindet der Gelehrte dieselbe Ehrfurcht vor irgendeinem Chef eines Lagerpunkts? Darum nur, weil jener der Chef ist.
Die Gelehrten, Ingenieure und Schriftsteller, Intelligenzler, die an die Kette geraten sind, sind bereit, sich jedem halbgebildeten Dummkopf zu unterwerfen.
»Bringen Sie mich nicht um, Bürger Natschalnik«, sagte im Jahr dreißig in meinem Beisein der verhaftete Verwalter der Lagerabteilung zum örtlichen Bevollmächtigten der OGPU. Der Name des Verwalters war Ossipenko. Und bis zum Jahr siebzehn war Ossipenko Sekretär des Metropoliten Pitirim gewesen und hatte teilgenommen an Rasputins Gelagen.
Doch warum Ossipenko! All diese Ramsins, Otschkins, Bojarschinows benahmen sich genauso …
Da war Majssuradse, Filmvorführer in der »Freiheit«, der in Bersins Nähe Lagerkarriere machte und sich bis zur Stelle eines Chefs der URO hinaufdiente. Majssuradse hatte begriffen, dass er »am Steigbügel« steht.
»Ja, wir sind in der Hölle«, sagte Majssuradse. »Wir sind im Jenseits. In Freiheit waren wir die Letzten. Und hier werden wir die ersten sein. Und jeder Iwan Iwanowitsch wird damit zu rechnen haben.«
»Iwan Iwanowitsch« – das ist der Spitzname eines Intelligenzlers in der Gaunersprache.
Ich dachte viele Jahre, dass all das nur »Rasseja« ist, die unvorstellbare Tiefe der russischen Seele.
Aber in Groves’ Memoiren über die Atombombe habe ich gesehen, dass der Welt der Gelehrten, der Welt der Wissenschaft diese Speichelleckerei gegenüber dem General nicht weniger eigen ist.
Was ist die Kunst? Die Wissenschaft? Macht sie den Menschen edler? Nein, nein und nein. Nicht aus der Kunst und nicht aus der Wissenschaft gewinnt der Mensch jene winzig kleinen positiven Eigenschaften. Etwas anderes gibt ihm moralische Kraft, aber nicht sein Beruf und nicht das Talent.
Das ganze Leben beobachte ich die Unterwürfigkeit, die Liebedienerei, die Selbsterniedrigung der Intelligenz, von den anderen Schichten der Gesellschaft ganz zu schweigen.
In meiner frühen Jugend sagte ich jedem Schurken ins Gesicht, dass er ein Schurke ist. In meinen reifen Jahren erlebe ich dasselbe. Nichts hat sich verändert nach meinen Verwünschungen. Nur ich selbst habe mich verändert, ich bin vorsichtiger, feiger geworden. Ich kenne den Schlüssel zu diesem Geheimnis der Menschen, die »am Steigbügel« stehen. Das ist eines der Geheimnisse, die ich ins Grab mitnehmen werde. Ich werde es nicht sagen. Ich weiß es – und werde es nicht sagen.
An der Kolyma hatte ich einen guten Freund, Moissej Moissejewitsch Kusnezow. Ob Freund oder nicht – Freundschaft gibt es dort nicht –, aber einfach ein Mensch, für den ich Achtung empfand. Der Lagerschmied. Ich arbeitete bei ihm als Hämmerer. Er erzählte mir eine weißrussische Parabel darüber, wie drei Herren – noch unter Nikolaj natürlich – drei Tage und drei Nächte ohne Pause einen armen weißrussischen Mushik prügelten. Der Mushik weinte und schrie: »Aber ich habe doch noch nicht gegessen.«
Wozu diese Parabel? Nur so. Eine Parabel – und fertig.
1967
Khan-Girej
Aleksandr Aleksandrowitsch Tamarin-Merezkij war nicht Tamarin und nicht Merezkij. Er war der tatarische Fürst Khan-Girej, General aus dem Gefolge Nikolajs II . Als Kornilow im Sommer siebzehn gegen Petrograd zog, war Khan-Girej Stabschef der Wilden Division – dem Zaren besonders ergebener Militäreinheiten aus dem Kaukasus. Kornilow kam nicht bis Petrograd, und Khan-Girej blieb ohne Amt. Später, nach einem Aufruf Brussilows und eingehender Prüfung seines Offiziersgewissens, wechselte Khan-Girej in die Rote Armee und richtete die Waffe gegen seine früheren Freunde. Jetzt verschwand Khan-Girej, und es erschien der Kavallerie-Kommandeur Tamarin, der Kommandeur des Kavallerie-Korps – drei Romben nach der Vergleichstabelle der militärischen Dienstgrade jener
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