Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Netz von Konzentrationslagern, die man damals umbenannte in »Arbeitsbesserungslager«.
Ich erinnere mich an ein großes Häftlings-Meeting im Sommer 1929 in der Verwaltung des UWLON , an der Wischera. Nach dem Vortrag von Bersins Stellvertreter, dem Arrestanten und Tschekisten Teplow über neue Pläne der Sowjetmacht und über neue Linien bezüglich der Lager, stellte Pjotr Peschin, ein Partei-Dozent aus Swerdlowsk, eine Frage:
»Sagen Sie, Bürger Natschalnik, worin unterscheiden sich Arbeitsbesserungslager von Konzentrationslagern?«
Teplow wiederholte die Frage volltönend und zufrieden.
»Das ist es, was Sie fragen?«
»Ja, genau das«, sagte Peschin.
»In gar nichts unterscheiden sie sich«, sagte Teplow mit tönender Stimme.
»Sie haben mich nicht verstanden, Bürger Natschalnik.«
»Ich habe Sie verstanden.« Und Teplow führte den Blick mal oben, mal unten an Peschin vorbei und reagierte in keiner Weise auf Peschins Signale – die Bitte, eine weitere Frage stellen zu dürfen.
Die Welle der »Umschmiedung« trug mich nach Beresniki, an die Station Ussolskaja, wie sie zu jener Zeit hieß.
Aber noch davor, in der Nacht vor meiner Abreise, kam Tamarin ins Lager, in die vierte Rotte, wo ich wohnte, um sich zu verabschieden. Es zeigte sich, dass man nicht mich wegbringt – man bringt Tamarin weg, mit einem Sonderkonvoj, nach Moskau.
»Glückwunsch, Aleksandr Aleksandrowitsch. Das ist zur Revision, zur Freilassung.«
Tamarin war unrasiert. Er hatte einen solchen Bartwuchs, dass er sich am Zarenhof zweimal am Tag rasieren musste. Im Lager rasierte er sich einmal am Tag.
»Das ist nicht die Freilassung und nicht die Revision. Ich habe noch ein Jahr Haftzeit, von dreien. Glauben Sie denn, dass irgendjemand die Verfahren revidiert? Die staatsanwaltliche Aufsicht oder irgendeine andere Organisation. Ich habe keinerlei Eingaben gemacht. Ich bin alt. Ich möchte hier leben, im Norden. Hier ist es gut – früher, in meiner Jugend, habe ich den Norden nicht gekannt. Meiner Mutter gefällt es hier. Meiner Schwester auch. Ich wollte hier sterben.«
Und jetzt der Sonderkonvoj.
»Ich werde morgen mit der Etappe geschickt – zur Eröffnung der Außenstelle Beresniki, zum ersten Spatenstich auf der Hauptbaustelle des zweiten Fünfjahrplans … Wir können nicht zusammen fahren.«
»Nein, ich habe einen Sonderkonvoj.«
Wir verabschiedeten uns, und am nächsten Tag setzte man uns auf einen flachen Kahn, und der Kahn fuhr bis Dedjuchin, bis Lenwa, wo man in einem alten Lagerhaus den ersten Trupp von Häftlingen unterbrachte, die auf ihren Rücken, mit ihrem Blut die Gebäude von Beresnikchimstroj errichteten.
Skorbut war zu Bersins Zeiten im Lager sehr häufig, und nicht nur aus dem fürchterlichen Norden, woher als staubige Schlange von Zeit zu Zeit die Etappen jener angekrochen, die Berge hinabgekrochen kamen, die ihre Arbeit abgeleistet hatten. Mit dem Norden drohte man in der Verwaltung, drohte man in Beresniki. Der Norden – das ist Ust-Uls und Kutim, wo es heute Diamanten gibt. Man hatte auch früher schon nach Diamanten gesucht, aber die Emissäre Bersins hatten kein Glück. Außerdem weckte ein Lager mit Skorbut, mit Schlägen, mit Handgreiflichkeiten im Vorübergehen und Morden ohne Gerichtsverfahren bei der örtlichen Bevölkerung kein Vertrauen. Erst später zeigte das Schicksal der im Zuge der Kollektivierung verbannten Familien von Entkulakisierten aus dem Kuban, dass sich das Land auf ein Blutbad vorbereitet: Man warf sie in den Wäldern des Urals in den Schnee und in den Tod.
Das Durchgangslager Lenwa war in derselben Baracke, in der wir untergebracht waren, genauer, in einem Teil dieser Baracke – in ihrer oberen Etage.
Ein Begleitposten hatte gerade einen Mann mit zwei Koffern und in einem schäbigen
tschekmen
dorthin geführt… Sein Rücken kam mir sehr bekannt vor.
»Aleksandr Aleksandrowitsch?«
Wir umarmten uns. Tamarin war schmutzig, aber fröhlich, wesentlich fröhlicher als in Wishaicha – bei unserer letzten Begegnung. Und ich verstand sofort, warum.
»Revision?«
»Revision. Ich hatte drei Jahre, und jetzt haben sie mir zehn gegeben – das Höchstmaß mit Ersetzung durch zehn Jahre – und ich kehre zurück! An die Wischera!«
»Warum freuen Sie sich denn?«
»Wie? Hierbleiben – das ist das Wichtigste in meiner Philosophie. Ich bin 65. Das Ende der neuen Haftzeit werde ich sowieso nicht mehr erleben. Dafür ist alle Ungewissheit zu Ende. Ich werde Bersin bitten, mich in
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