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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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der Landwirtschaft sterben zu lassen, in meinem hellen Zimmer mit der Decke aus Treibhausrahmen. Nach dem Urteil hätte ich mir jeden Ort erbitten können, aber ich habe viele Kräfte darauf verwandt, mich zurück, zurück zu bitten. Und die Haftzeit … Das ist alles Unsinn – die Haftzeit. Eine große Außenstelle oder eine kleine Außenstelle, das ist der ganze Unterschied. Jetzt ruhe ich mich aus und übernachte, und morgen an die Wischera.«
    Zu den Gründen, den Gründen … Natürlich gibt es Gründe. Gibt es Erklärungen.
    Im Ausland sind die Memoiren Envers erschienen. In den Memoiren selbst steht kein Wort über Tamarin, aber das Vorwort zum Buch stammt von dem ehemaligen Adjutanten Envers. Der Adjutant schreibt, Enver habe nur entwischen können dank des Beistands durch Tamarin, mit dem Enver, nach den Worten des Adjutanten, bekannt und befreundet war und schon während des Dienstes von Khan-Girej am Zarenhof korrespondierte. Dieser Briefwechsel wurde auch später fortgesetzt. Die Untersuchung stellte natürlich fest, dass, wäre Enver nicht an der Grenze getötet worden, Tamarin, der heimliche Moslem, dem Ghazawat hätte vorsitzen und Enver Moskau und Petrograd zu Füßen legen müssen. Dieser gesamte Stil der Untersuchung trieb in den dreißiger Jahren üppige blutige Blüten. Die »Schule«, die Handschrift ist ein- und dieselbe.
    Aber Bersin war die Handschrift der Provokateure bekannt, und er glaubte der neuen Untersuchung im Verfahren Tamarin kein Wort. Bersin hatte die Erinnerungen Lockharts und Lockharts Artikel über das eigene, Bersins Verfahren gelesen. Das Jahr 1918. In diesen Artikeln und Memoiren wurde der Lette als Verbündeter Lockharts, als englischer und nicht sowjetischer Spion dargestellt. Der Platz in der Landwirtschaft war Tamarin auf ewig sicher. Versprechungen des Chefs sind etwas Heikles, aber trotzdem, so zeigte die Zeit, dauerhafter als die Ewigkeit.
    Tamarin bereitete sich auf eine etwas andere Arbeit vor als die, der er sich in den ersten Zeiten nach der »Revision« seines Verfahrens hatte widmen wollen. Und obwohl der Agronom im
tschekmen
nach wie vor jeden Tag eine frische Rose von der Wischera, eine Orchidee von der Wischera auf Bersins Tisch stellte, dachte er nicht nur an Rosen.
    Die erste Dreijahreshaft von Tamarin war zu Ende, aber daran dachte er gar nicht. Das Schicksal braucht ein Blutopfer, und dieses Opfer wird gebracht. Tamarins Mutter war gestorben, die riesige fröhliche kaukasische Greisin, der der Norden so gefiel, die den Sohn aufmuntern, an seine Begeisterung, an seinen Plan, an seinen Weg, den unsicheren Weg glauben wollte. Als sich herausstellte, dass die neue Haftzeit zehn Jahre beträgt, starb die alte Frau. Sie starb schnell, innerhalb einer Woche. Ihr gefiel der Norden so gut, aber das Herz hielt den Norden nicht aus. Es blieb die Schwester. Jünger als Aleksandr Aleksandrowitsch, aber auch sie eine weißhaarige alte Frau. Die Schwester arbeitete als Stenotypistin im Kontor von Wischchims und glaubte noch immer an den Bruder, an sein Glück, an sein Schicksal.
    1931 nahm Bersin eine neue große Berufung an – an die Kolyma, als Direktor von Dalstroj. Das war ein Posten, auf dem Bersin die höchste Macht in der Randregion – dem achten Teil der Sowjetunion – in sich vereinte, die Partei-, die Sowjet-, die militärische, die gewerkschaftliche Macht etc.
    Die geologische Erkundung, die Expedition von Bilibin und Zaregradskij hatte hervorragende Resultate ergeben. Die Goldvorräte waren reich, es blieb eine Kleinigkeit: dieses Gold bei sechzig Grad Frost zu fördern.
    Dass es an der Kolyma Gold gibt, weiß man seit dreihundert Jahren. Aber kein einziger Zar konnte sich entschließen, dieses Gold durch Zwangsarbeit, durch Häftlingsarbeit, durch Sklavenarbeit zu fördern, dazu entschloss sich erst Stalin … Nach dem ersten Jahr, dem Weißmeerkanal, nach der Wischera – war man zu dem Schluss gekommen, dass man mit dem Menschen alles machen kann, dass die Grenzen seiner Erniedrigung unermesslich, seine physische Stärke unermesslich ist. Es wurde klar, was man erfinden kann um eines zweiten Gerichts zum Mittagessen willen je nach Stufe – der Produktions-, der
udarnik
- und der Stachanow-Stufe, so nannte sich um das Jahr siebenunddreißig die höchste Brotration für Lagerhäftlinge oder Kolyma-Armisten, wie sie damals in den Zeitungen hießen. Für diesen Goldbetrieb, für diese Kolonisierung des Landes, und später für die physische Vernichtung

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