Es blieb nur ein rotes Segel
II.«
»Lang lebe der Zar!« sagte Rosalia ehrfürchtig.
»Und was soll dann Matilda sein?« Mustin stülpte seinen Hut auf den unförmigen Kopf. »Nikolai wird Geliebte haben – aber eine von vielen – dafür ist mir Matilda nun doch zu schade!«
»Sie sagen das richtige!« Rosalia ließ ihre Faust auf den Tisch fallen. »Ich verspreche Ihnen, Mustin Fedorowitsch: Matilda wird alle Annäherungen des Zarewitsch abweisen! Und wenn ich sie selbst Tag und Nacht nicht aus den Augen lasse!«
Zufrieden stieg Mustin die steile Treppe hinab, betrat durch eine Seitentür den Trödlerladen von Minajew und legte ihm einen Leinenbeutel mit Geld auf den Tisch. Minajew, der wie immer auf einem Stuhl zwischen seinem Kram hockte und trübsinnig auf die Straße starrte, zuckte zusammen.
»Unmöglich!« sagte er rauh. »Für dich habe ich nichts im Laden! Man könnte höchstens etwas umändern …«
»Im Beutel sind zehn Rubel!« sagte Mustin. »Leutnant von Soerenberg schickt sie dir wegen seines Pferdes. Oder glaubst du, der Hochwohlgeborene reitet mit Taschen voll Geld herum?! Ein so hoher Herr, ein Baron aus Deutschland, hat nicht nötig, selbst zu bezahlen. Verstehst du? Wenn er wiederkommt, hol das Pferd wieder in deinen Laden. Und wehe dir, wenn ihm nur ein Schwanzhaar fehlt! Ich prügele dir die zehn Rubel wieder aus der Hose!«
Minajew machte ein paar Verbeugungen und wartete, bis der Zwerg den Laden verlassen hatte. Dann öffnete er mit zitternden Fingern den Beutel und zählte nach. Zehn Rubel, tatsächlich! Er steckte das Geld in die Tasche und rannte hinauf zur Bondarewa.
»Wer war das?« schrie er schon im Flur. »Rosalia, zehn Rubel hat er mir gegeben. Die Menschheit wird verrückt!«
»Es war Mustin, der Leibnarr des Zarewitsch!« Rosalia Antonowna blickte Minajew aus glasigen Augen an. Selbst für sie waren sieben Gläser Birkenschnaps eine umwerfende Menge. »Gewöhne dich daran, Tichon Benjaminowitsch, daß wir in Zukunft nur noch mit Hochwohlgeborenen verkehren …«
Der Besuch des Zarewitsch in der Kaiserlichen Ballettschule wirkte noch lange nach. Vor allem Tamara Jegorowna konnte sich nicht beruhigen.
»Wie konnte das passieren?« fragte sie Matilda immer wieder. »Fällt vor dem Thronfolger einfach in Ohnmacht, das dumme Luder! Nur weil er ihr die Hand küßt!«
»Ich habe nicht damit gerechnet, daß er mich überhaupt anfaßt«, sagte Matilda still. Sie sprach wie nach innen, leise, schwebend, irgendwie verwandelt, als könne sie aus einem Traum nicht zurück in die Wirklichkeit kehren. »Ich kniete vor ihm, und da küßte er mich.«
»Die Hand!«
»Ist das nicht genug?«
»Man soll es nicht glauben!«
Die Jegorowna drückte Matilda auf einen Hocker und stellte sich vor sie hin. Sie waren in dem kleinen Übungszimmer allein, in dem Tamara die ausgewählten Solistinnen und Solisten einzeln trainierte.
Sogar die neue Ballerina Ljudmila Pischnowskaja kam dreimal in dieser Woche zu diesem Solotraining, probierte unter Tamaras harten Kommandos die neuen Partien durch und ließ sich von ihr beschimpfen. Ohne Uhrzeit wurde probiert, gnadenlos, bis zum Umfallen … Kein militärisches Exerzierreglement war mit dem vergleichbar, was die Jegorowna ihren Ballettschülern zumutete.
Aber es lohnte sich.
Wer aus der Jegorowna-Schule kam, wer diese Knochenmühle durchstand, erschrak vor nichts mehr, was mit Ballett zu tun hatte. Selbst der große Igor Wladimirowitsch Potgan, der jetzt in Paris tanzte, sagte ehrfurchtsvoll: »Was die Tamara in Petersburg leistet, das wird die Zeiten überleben!«
Auch heute war die Jegorowna mit Matilda hart bis an die Grenze gewesen. Drei Stunden, mit nur einer kleinen Schnaufpause, trainierte sie die Rolle, die Matilda am 23. Dezember zum erstenmal als Solistin tanzen sollte: Die Prinzessin Aurora in ›La Belle Au Bois Dormant‹ mit der ›Dornröschen‹-Musik von Tschaikowsky.
Tamaras Spruch: Edelsteine muß man schleifen, bis sie nach allen Seiten glitzern, hatten schon viele verflucht, aber sie sagten ihn sich vor wie ein Gebet, wenn nach der Aufführung der Applaus der ausverkauften Opernhäuser zu ihnen auf die Bühne brauste …
»Was habe ich gesagt«, fragte die Jegorowna jetzt, während Matilda schwitzend und mit gesenktem Kopf auf dem Hocker saß. »Was muß ein Tänzer haben?«
»Ausdauer, Disziplin, eisernen Willen …« Matilda blickte hoch. Ihre Augen zitterten vor Anstrengung. »Und Gläubigkeit.«
»Bei dir kommt noch etwas hinzu: Nerven! Nerven
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